Der Nizzagarten in Frankfurt am Main ist ein unwahrscheinlicher Ort. Zwischen der hohen Sandstein-Kaimauer und dem Fluss herrscht ein einzigartiges warmfeuchtes Mikroklima. Gerade werden die Khakis reif und kleine gelbe Zitrusfrüchte rollen ins Gras. Einer der Momente, in denen man das Smartphone zücken und fotografieren möchte. Der Impuls, die Welt noch einmal auf unseren Bildschirmen sehen zu wollen und sie zur Weiterverbreitung aufzubereiten, dieses Doppelleben, ist längst Alltag.
"Unsere Geräte wissen sowieso, wo wir sind", sagt der Kurator und Autor Ben Livne Weitzman. "Der öffentliche Raum ist durch die virtuelle Kumulation von Daten ohnehin schon ein augmented space." Er und sein Team aus Künstlerinnen und Künstlern, Programmierinnen und Programmierern haben eine Ausstellung und eine App für virtuelle Kunst im Frankfurter Stadtraum entwickelt. Im Nizzagarten und in den angrenzenden Anlagen sind die Werke von ehemaligen Städel-Studierenden jetzt positioniert. Man braucht nur die App "Wava", um sie zu sehen.
Wir stehen unter meterlangen Bananenblättern und halten ein Tablet in Richtung einer Wiese. Ein riesengroßer ausladender Dschungelbaum entwickelt sich auf dem Bildschirm, alles ist überragt von Luftwurzeln, die Rinde ist interessant violett gefärbt, Lianen hängen ringsherum. Der Städel-Absolvent Shaun Motsi hat das Werk "Nü Sensitivity" für diesen Ort entwickelt: Es ist ein Baum aus dem Film Avatar von James Cameron. Wir erinnern uns an die White-Savior-Geschichte von 2009, in der ein weißer US-Marine das Volk der blauhäutigen Na‘vi ausspähen soll und sich dann als Retter der friedlich im Einklang mit der Natur lebenden Spezies fühlen darf. So bringt Shaun Motsi die problematischen Hollywoodklischees, postkoloniale Botanik, Koexistenz und Fremdheit in diesem halbvirtuellen Zustand schlau zusammen.
Freiräume im virtuellen Raum zu verteidigen
Ganz in der Nähe, wo das Schauspiel, das Bahnhofsviertel und das Bankenviertel aufeinandertreffen und die Straßenbahn, Geschäftsleute, E-Roller, Obdachlosen, Fahrräder über die Betonplatten navigieren, hat der Künstler Benedikt Ackermann in der App Stellen im Boden markiert. Es sind Schächte, über die wir täglich laufen, ohne sie wahrzunehmen: die Zugänge zum unterirdischen digitalen Nervensystem. Ackermann gibt hier ein virtuelles Werkzeug an die Hand, um das physische Gerüst der vermeintlich immateriellen digitalen Infrastruktur sichtbar zu machen. Diese Vergegenwärtigung hat etwas sehr Aufklärerisches. Und ist ein Schritt dahin, als Nutzer selbst emanzipatorische Gedanken in Bezug auf diese Strukturen zu entwickeln.
Der Name der App, Wava, steht für "Withstanding Audio Visual Augmentations", das Wort "widerständig" spielt im Denkansatz von Ben Livne Weitzman eine wichtige Rolle. Es könnte nämlich schon sehr bald darum gehen, die Freiräume im virtuellen Raum zu verteidigen. Wava zeigt mit visuellen und mit zwei ortsspezifischen, kontemplativen Soundarbeiten, wie spannend und ergiebig dieser Raum sein kann, vor allem, weil er eben öffentlich und gemeinsam erlebbar ist.
Einen ganz ähnlichen Ansatz haben die Macher der "Freitagsküche", einer Frankfurter Institution mit Gastronomie und Veranstaltungen, die vor vielen Jahren ebenfalls aus der Städelschule hervorgegangen ist. Mit Corona-Hilfen entwickelte das Team um Thomas Friemel eine AR-Tour im Stadtraum. An jeder Station von "Augmented Bahnhofsviertel" gibt es eine Plakette mit QR-Code, das Erlebnis findet auch hier auf den eigenen Telefonen oder Tablets statt.
"Knusper-Boys sorgen rund um die Uhr für Ihr Wohlbefinden."
Sonja Yakovleva hat auf der Fassade eines geschlossenen Dolly-Buster-Sexshops ein VR-Bordell für Frauen eingerichtet. Im gängigen Idiom dreht sie das Narrativ der von dienstbaren Frauen erfüllten Männerwünsche einfach um: Businessfrauen, aufgepasst! "Knusper-Boys sorgen rund um die Uhr für Ihr Wohlbefinden." Wer durch den Schlitz ins "Knusperhäuschen" geschlüpft ist, steht in einem von Yakovlevas sexy Scherenschnitten.
Die Illustratorin Anna Hoffmann legt der eiligen Passantin verspielte Überraschungs-Kapseln in den Weg, die mit dem wirklich irritierenden alten Nokia-Klingelton aufpoppen. Sandra Kranich hängt eine ausladende sternförmige Skulptur in die Platanen am Jürgen-Ponto-Platz, wo die Drogenszene und die Bankentürme am heftigsten aufeinanderprallen. Tina Kohlmann hat einen tollen, riesengroßen Parasiten mit langer Zunge entwickelt, der an der gesamten glänzenden Skyline ungezogen herumleckt.
Das Kulturamt der Stadt Frankfurt hat beide Projekte, "Augmented Bahnhofsviertel" und Wava, auf verschiedene Weise unterstützt. Das ist klug, denn der Wettlauf um den öffentlichen digitalen Raum hat schon längst begonnen, etwa wenn bestimmte städtische Areale von Firmen geblockt werden, um virtuell ausschließlich ihre Inhalte zu platzieren. Geförderte Projekte wie diese haben die wichtige Aufgabe, die Gesellschaft überhaupt erst aufmerksam zu machen auf dieses neue, demokratische, urbane Aktionsfeld. Die Stadt erkennt hier ihre Chance, als Akteur mitzugestalten, etwa um zu vermeiden, dass die Probleme des analogen Stadtraums sich im Digital-Turbo wiederholen. Die Möglichkeiten werden gerade erst entdeckt. Man sollte sie sich auf keinen Fall aus der Hand nehmen lassen.