Welche Bilder wir auch immer vor Augen haben, wenn wir uns die USA denken – es sind zuallermeist die Bilder von Edward Hopper. Und dieses Amerika-Bild des Malers Edward Hopper ist kein abschreckendes, sondern im Gegenteil eines von größter Anziehungskraft. Tatsächlich aber hat Hopper, von der Atlantikküste seiner Sommeraufenthalte abgesehen, vor allem einen Ort gemalt, die Stadt, in die er als junger Mann zum Studium gekommen war und wo er bis zu seinem Tod 1967 lebte: New York.
Zu seinem Œuvre hat es derart viel Ausstellungen gegeben, dass es verwundert, darunter keine zu Hoppers Beziehung zu New York zu finden. Das Whitney Museum of American Art, dem der Künstler seinen gesamten, Tausende von Gemälde, Zeichnungen und Radierungen umfassenden Nachlass vermacht und das daraus 1980 die definitive Werkübersicht zusammengestellt hatte, war die berufene Institution, sich dieses Themas anzunehmen. "Edward Hopper's New York" wurde der Publikumserfolg des Winters 2022/23, dem jedoch, anders als bei der Retrospektive von 1980, keine Ausstellungstournee folgte.
Als Ausgleich hat der Münchner Verlag Schirmer/Mosel jetzt den Katalog der New Yorker Ausstellung ins Deutsche übertragen – ein Buch mit gehaltvollen Essays und all den Bildern, die man von Hopper kennt oder, auch ohne sie zu kennen, doch erwartet. Und da zeigt sich, dass Hopper, der 53 Jahre lang am Washington Square in New Yorks Künstler- und Intellektuellenviertel Greenwich Village gelebt und in der Wohnung sein Atelier gehabt hat, immer wieder Elemente dieser seiner Stadt in seine Bilder eingefügt und sie zugleich transformiert hat, eben zu jenem Über-Bild von Amerika, das so ungeheuer populär geworden ist.
Bilder als Metaphern gesellschaftlicher und seelischer Zustände
Dabei hat Hopper stets "nach der Natur" gemalt, also nach der gesehenen Realität, aber nie diese Realität selbst abgemalt. Hopper war nicht zuletzt als Zeichner ausgebildet und verdiente seinen Lebensunterhalt als Zeitungsillustrator, lange bevor er von seiner Kunst leben konnte. Da war er bereits jenseits der 40. Was er beherrschte, war die zeichnerische Wahrnehmung seiner Umgebung, die er in zahllosen Skizzen in stets mitgeführten Heften festhielt. Die Gemälde komponierte er in seinem karg bemessenen Atelier, und "komponiert" meint tatsächlich die Zusammensetzung aus einzelnen Bildelementen, die er zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfügte.
Sicher, es finden sich auch Bilder, die im Ganzen einer vorfindbaren Wirklichkeit nahekommen, wie jene mit dem Shakespeare-Denkmal im Central Park von 1935. Doch erst wo Hoppers Bilder sich von einer konkreten Lokalität, einer benennbaren Situation entfernen und Eindrücke verallgemeinern, die der unablässige Flaneur, Kinogänger und Restaurantbesucher Hopper quasi beiläufig skizziert hat, gewinnen sie jene überzeitliche Gültigkeit, die sie zu Metaphern gesellschaftlicher wie vor allem seelischer Zustände machen, oft genug melancholisch grundiert.
Was immer Hopper malt, es ist real
Die Ausstellung im Whitney konnte aus den Quellen schöpfen, den Skizzen und Zeichnungen Hoppers. So wird deutlich – und im Katalogbuch ist das nachzuverfolgen – , wie der Künstler seine Gemälde aufbaut. Hopper hat selbst nicht fotografiert, doch sein Blick ist erstaunlich fotografisch oder auch kinematografisch: überraschende Perspektiven von oben oder von der Seite, Anschnitte, Verkürzungen. So hat Hopper umgekehrt auf Filmregisseure gewirkt, am stärksten auf seinen Bewunderer Wim Wenders, der die belanglosen Straßenecken und ärmlichen Hotelzimmer zu Schauplätzen seiner Filme gemacht und solche Einfühlung mit einem 3D-Kurzfilm 2020 auf die Spitze getrieben hat.
Er wolle "eine realistische Kunst" schaffen, "aus der Phantasie erwachsen kann", wird Hopper im Katalogbuch zitiert. Das trifft es so knapp wie genau. Was immer Hopper malt, es ist real oder könnte real sein, aufzufinden sozusagen an der nächsten Ecke. In seinen besten Bildern – und er hat erstaunlich viele "beste" Bilder geschaffen – setzt die Realität eine Phantasie frei, die hinter die vordergründige Realität zu blicken vermag. Hoppers Bilder sind New York, und sie sind so viel mehr; doch so viel mehr sie auch sind, bleiben sie zugleich New York.