Bea Meyer über ihren Entwurf fürs Einheitsdenkmal

"Wir wollen die Selbstermächtigung der Menschen würdigen"

In Leipzig soll im kommenden Jahr ein Einheits- und Freiheitsdenkmal entstehen. Am jetzt präsentierten Siegerentwurf war auch die Künstlerin Bea Meyer beteiligt. Mit ihr haben wir über das Projekt gesprochen

Am 9. Oktober 1989 gingen 70.000 Menschen in Leipzig auf die Straße. Die Demonstrationen verliefen friedlich. Der Tag gilt als Wendepunkt im Herbst 1989. Bereits eine Woche später waren in der Messestadt 150.000 Menschen auf der Straße. An der einstigen Demo-Strecke am Innenstadtring soll nun im zweiten Anlauf ein Park mit einem Einheits- und Freiheitdenkmal entstehen, das die Erinnerung an den 1989 lebendig hält. Diese Woche ist der Siegerentwurf vorgestellt worden. Gewonnen hat den Wettbewerb der gemeinschaftliche Entwurf von Architekten und Künstlern aus Leipzig, darunter Künstlerin Bea Meyer, mit der wir über das Projekt gesprochen haben.

Frau Meyer, die Ausschreibung für das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Leipzig erfolgte im Frühjahr 2024 international. Sie haben sich dafür mit Clemens Zirkelbach, Peter Ille, Dirk Lämmel und Alexej Kolyschkow von Zila Architekt.innen und dem Künstler und Architekt Michael Grzesiak aus Leipzig zusammengetan. Warum haben Sie sich beworben? Was war Ihre Motivation?

Auch wir haben zu Beginn des Prozesses unsere jeweilige Motivation abgefragt: Zwei von uns waren 1989 selbst dabei, einer war noch nicht einmal geboren und andere kennen die Ereignisse aus den Schilderungen ihrer Eltern. Wir hatten alle sechs den Wunsch, uns intensiv damit zu beschäftigen. Ich wollte auch besser verstehen, wie es zu den aktuellen Wahlergebnissen kommt und ob da noch irgendwas liegt, was wir uns bisher nicht angeschaut haben. Und es ist natürlich super, in seiner eigenen Stadt etwas mitzugestalten.

Sie sind 1969 in Karl-Marx-Stadt geboren, leben in Leipzig. Wie haben Sie die Ereignisse 1989/90 erlebt?

Ich war damals 20 Jahre alt und selbst an einem Kipppunkt, wo ich Freiheit brauchte und entscheiden wollte, was ich studiere und wo ich hingehe. Für mich war es damals folgerichtig, auf die Straße zu gehen. Ich war mit Freunden in Karl-Marx-Stadt auf den Demos und bei zwei Montagsdemos in Leipzig. Ein Gefühl der Aufregung und der Angst. Als ich am 7. Oktober 1989 in Karl-Marx-Stadt unterwegs war, haben sie einem Freund von mir die Kamera vom Hals gerissen und den Film herausgenommen. Das hat mich geschockt und ich habe es nicht für möglich gehalten, weil ich vorher noch keine Erfahrungen mit dieser Staatsgewalt gemacht hatte. Es war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich bin sehr froh, dass ich meine eigenen Erfahrungen nun in den Prozess einbringen konnte. 

Wie haben Sie sich als Gruppe der Aufgabe genähert? Wie organisiert man einen kreativen-künstlerischen Prozess im Kollektiv? 

Wir teilen uns in Leipzig seit Jahren Arbeitsräume und Atelier, kennen unsere Arbeit gegenseitig sehr gut, haben aber bisher keine Projekte zusammen gemacht. Als die Ausschreibung veröffentlicht wurde, haben wir die Möglichkeit gesehen, etwas zusammen zu machen. Wir haben unterschiedliche Herangehensweisen: Bei mir als Künstlerin geht es sofort los. In dem Moment, wo ich entschieden habe, am Wettbewerb teilzunehmen, fing es in meinem Kopf an, zu arbeiten. Die Architekten warteten auf die Ausschreibung. Wir haben uns regelmäßig getroffen und miteinander gesprochen, uns selbst eine Struktur gegeben. Durch dieses Sprechen haben wir gemerkt, was unsere Interessen und Motivationen sind. Dann kamen sehr schnell sehr unterschiedliche Ideen auf. Die haben wir zunächst alle stehen lassen, sie gemeinsam durchgespielt und uns gegenseitig Rückfragen gestellt. Das war ein großartiger Prozess. Der Wettbewerb hat ja sehr viele Anforderungen formuliert. Das war nicht einfach, da zu einem guten Wurf zu kommen, der viele Menschen mitnimmt und anspricht. 

Erwartet wurde eine künstlerisch zeitgemäße sowie qualitäts- und würdevolle Antwort, die der nationalen und internationalen Bedeutung des Denkmals gerecht wird. Das zentrale Element Ihres gemeinsamen Entwurfes sind 50 Skulpturen, deren Formen an Banner und Transparente erinnert. Welches Anliegen liegt dem Entwurf zugrunde? 

Wir möchten das Mutfassen würdigen. Das Sichtrauen, sich selbst ermächtigen und in Aktion gehen. Das war für uns der entscheidende Moment, den wir formal in die Form von Bannern und Transparenten übertragen haben. In die Medien also, mit denen Menschen ihre Haltung und Meinung demonstrieren, um in einen Dialog zu gehen. Wir wollen die Freiheitssehnsucht und die Selbstermächtigung der Menschen würdigen, die sich damals getraut haben, auf die Straße zu gehen, friedlich!

Wie wird diese Würdigung konkret umgesetzt werden? Welche Erfahrung werden etwa auch Menschen aus dem Ausland im und mit dem Denkmal machen können?

Wir haben eine Form gefunden, die sicherstellt, dass man nichts übergeholfen bekommt. Im Park am Wilhelm-Leuschner-Platz im Leipziger Zentrum begegnen Menschen in Zukunft Skulpturen, die an weiße Banner erinnern. Da steht nichts drauf. Man kann dort verweilen und sieht sich einer Form gegenüber, die als Projektionsfläche eine große Offenheit darstellt. Die unbeschriebenen Blätter lassen auch an die "A4-Revolution" von 2022 denken. Durch die Konstellation der Skulpturen zueinander kann man eine räumliche Erfahrung machen. Menschen, die 1989 dabei waren, können erinnern. Andere bekommen eine Idee von den Ereignissen und vielleicht auch von den Emotionen. Unser Entwurf weist auch in die Zukunft. Die Ereignisse von 1989/1990 haben eine Universalität: Den Mut zu haben, seine Meinung zu äußern, ist die Voraussetzung für den demokratischen Prozess. Das ist auch das, was wir gegenseitig wieder brauchen. Sich äußern, sich gegenseitig zuhören, in Beziehung gehen.

Ihr Entwurf heißt "Banner, Fahnen, Transparente". Warum die Unterscheidung in diese drei Kategorien der Meinungsbildung? 

Wir waren auf der Suche nach Prototypen für die Skulpturen. 1989 nutzten die Menschen hauptsächlich Bettlaken mit Besenstilen. Dafür steht das Banner. 2024 habe ich auf den Demos für Demokratie in Leipzig eher Pappschilder mit einem Stil dahinter gesehen. Das sind Transparente. Und Fahnen sind bei Demos damals wie heute präsent. 

Die Skulpturen sind zwar leicht überdimensioniert, aber gut zugänglich. Die weißen Flächen werden sicher viele dazu einladen, sie zu beschreiben, zu bekleben und für eigene Äußerungen im öffentlichen Raum zu gebrauchen. Sind sie in diesem Sinne partizipativ gedacht?

Es sind Skulpturen! Das weiße Transparent steht textlos für das "unbeschriebene Blatt", für die Möglichkeit der Meinungsäußerung. Unser Konzept sieht vor, dass diese gefalteten Flächen weiß sind und weiß bleiben.  

Die Skulpturen bestehen aus weiß beschichtetem Edelstahl. Hat die Materialität ausschließlich praktische Gründe, oder gibt es auch eine materialikonografische Dimension? 

Ob das Leipziger Blaue Wunder, eine Fußgängerbrücke in der Innenstadt, die Blechbüchse, oder Pusteblumen-Springbrunnen; Metall hat den öffentlichen Raum früher sehr geprägt. Ich habe bereits 2004 für das Projekt "Temporäre Gärten" am Museum der bildenden Künste in Leipzig eine der dort früher positionierten "Pusteblumen" als "Gast" zurückgeholt. 

Und welcher Logik wird die Aufstellung der 50 Skulpturen folgen? 

Ich habe mich in den letzten Jahren als Künstlerin mit Streuungen beschäftigt, zufällige Konstellationen nachgestickt. Streuung und Verdichtung ist auch unser Bild für die vielen Ereignisse im Herbst '89, die zeitgleich an vielen Orten stattfanden. Wir haben eine von mir gestickte Streuung als "Lageplan" zugrunde gelegt. Es gibt Einzelne, kleinere Gruppen und dann eine Verdichtung am Leipziger Ring. Da stehen dann viele zusammen, die eine Kraft entwickeln. Bei der Übertragung der künstlerischen Streuung auf den Lageplan müssen wir dann pragmatisch etwas auslassen, denn im Park, in dem das Denkmal stehen wird, gibt es gewisse Zwänge, etwa Feuchtareale, in die wir keine Skulpturen stellen können. 

Welche Rolle spielt die Umgebung des Denkmals, insbesondere der Park?

Wir haben ihn sehr bewusst mitgedacht. Es war ein Ergebnis des ersten Wettbewerbs, dass die Bürgerinnen und Bürger eine grüne Fläche als Naherholungsraum möchten. Der Platz liegt einzigartig als Freiraum mitten in der Stadt, fast wie der Central Park in New York. 

Wie soll das Werk vor Ort vermittelt werden? 

Es soll keine Infotafel geben, aber durchaus den Zugang zu den Hintergründen. In den Boden sollen Kalenderdaten eingelassen werden, die an wichtige Momente der friedlichen Revolution erinnern. Manche Daten sind sehr bekannt, wie die Aktion "Schwerter zu Pflugscharen" am 24. September 1984. Andere, wie die Beatdemo am 31. Oktober 1965 auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz, weniger. Wir haben für den Entwurf 16 Daten ausgewählt und werden für die endgültige Auswahl noch in den Diskurs mit Historikerinnen und der Stiftung Friedliche Revolution gehen. Es wird auch eine Website mit Informationen zu den Daten geben. Ich beschäftige mich künstlerisch schon lange mit Daten. Die Geschehnisse von 1989 werden im Rückblick linear erzählt. Wir haben in der Beschäftigung damit noch einmal bemerkt, dass es damals parallel in vielen Städten Demonstrationen gab, auch an der Ostsee oder an kleineren Orten, die die Medien damals nicht in der Form wie heute geteilt haben. Jetzt im Nachhinein können wir das als zusammenhänge Narration begreifen. Aber das waren einzelne Erlebnisse, deshalb auch die Individualisierung der Banner. Es waren Einzelne, die gemeinsam zu dieser Bewegung geführt haben. 

Das Denkmal soll gleichzeitig für Freiheit und Einheit stehen. Begriffe, die für Menschen im Osten emotional zum Teil extrem unterschiedlich belegt sind: Auch Menschen, die 1989 den Mut hatten, zu demonstrieren, standen der schnellen Wiedervereinigung kritisch gegenüber und haben ihren Arbeitsplatz verloren. Bildet sich diese Komplexität Ihrer Meinung nach im Entwurf ab? 

Das war ein großes Thema. Als Freiheits- und Einheitsdenkmal muss es extrem viel leisten. Oberbürgermeister Burkhard Jung hat bei der Pressekonferenz zur Bekanntgabe des Siegerentwurfs am 2. Oktober gesagt: "Erst die Freiheit, dann die Einheit". Für uns war es leichter, etwas zur Freiheit zu entwickeln. Die Einheit ist ein Diskurs, der jetzt wieder stärker geführt wird, in dem Sinne, ob es sie überhaupt gibt und was wir darunter verstehen. Ich fand total erhellend, dass Einheit eben keine Vereinheitlichung ist. 1989 war die Befreiung von etwas, aber eben auch die Freiheit zu etwas. Man hat die Freiheit, sich zu beteiligen und die Welt als Möglichkeitsraum mitzugestalten. Dann kommt es auch zu einer Einheit, die sich für alle nach Einheit anfühlt. 1990 erfolgte der Anschluss an die BRD. Die Dynamiken haben nicht viel Raum für Mitsprache und Mitgestaltung geboten. Es war ja auch alles einer gewissen Hast unterlegen. Ich weiß es auch aus meiner eigenen Familie, dass das viel Verlust bedeutet hat und vieles nicht gesehen wurde und nicht wird. Wir schaffen hoffentlich einen würdigen Raum, um hinzuschauen und nachzufragen. Dieses Gesehen werden ist sehr wichtig. 

Der erste Wettbewerb für ein Einheits- und Freiheitsdenkmal ist gescheitert. Nun wurde vieles anders gemacht. Wie haben Sie das Verfahren als Teilnehmende erlebt? 

Das war super! Wir haben schon gemerkt, dass im ersten Durchlauf vieles nicht optimal lief und man sich da nun abgesichert hat. Wir haben diesen Wettbewerb als sehr durchdacht erlebt. Die Betreuung und die Unterlagen waren sehr gut strukturiert. Für Leipzig ist das eine große Chance. Wir schlagen mit dem dezentralen Denkmal neue Wege ein.

Welche Rolle hat der Berliner Siegerentwurf, die sogenannte Einheitswippe für Sie gespielt?

Wir haben uns während der Erarbeitung unseres Entwurfs bewusst keine anderen Arbeiten angeschaut und uns auf die Leipziger Situation konzentriert. Ich persönlich finde die Idee von Sasha Waltz gut.