Wer braucht noch Kunstkritik, der Trend geht zum vermeintlich gesunden Menschenverstand des vermeintlich kleinen Mannes. Erst kürzlich hat die "Welt" ihren Documenta-"Abgesang" mit der Wehklage eines Taxifahrers eingeleitet, der dem Kritiker sein Urteil zur 14. Ausgabe der Weltkunstausstellung mitgab. Schließlich bezahlt der vermeintlich kleine Mann die ganze Sause mit seinen Steuergeldern, so suggeriert es dieser Text. Und auch der "Spiegel" veröffentlichte vor zwei Wochen statt einer weiteren Kritik eine Reportage, die Besucherreaktionen beschrieb.
Doch man braucht nicht das Taxi nehmen, um die Stimmung der Besucher einzufangen: In der Oversharing Economy gibt es dafür Empfehlungsportale wie Yelp oder TripAdvisor, auf denen jeder seinen mittelscharfen Senf abgeben kann: zu Restaurants, Hotels, Sehenswürdigkeiten – oder eben zu Ereignissen wie die Documenta 14. "Hier ist für jeden was dabei, und bei der Vielfalt kann man sich ein paar nette Tage mit Kunst in Kassel machen", schreibt etwa Angi M. aus Frankfurt, die vier von fünf Sternen für die Documenta 14 vergibt. Sie stört sich an langen Schlangen vor dem Fridericianum und an den fehlenden Hintergrundinformationen – was auch schon professionelle Besucher aufbrachte.
Die mangelhafte Vermittlung ist das große Thema der Yelp- und TripAdvisor-Kritiker und zeigt, wie sehr die Documenta ihre Besucher tatsächlich allein lässt. "Die Organisation der Documenta war bezüglich brauchbarer Information für die Besucher völlig desolat", schreibt Wolfgang K. "Diesen Missstand dann noch als Konzept anzupreisen, ist wirklich peinlich." Er spielt damit auf den Wunsch des Kurators Adam Szymczyks an, die Besucher mögen das eigene Wissen verlernen und Kunsterfahrungen ohne Erwartungen machen.
Nutzer Ichwillsschö N. aus Darmstadt hat darauf aber keine Lust: "Ich hatte nur einen Tag in Kassel und vorher nicht viel Zeit, mich zu informieren. Dachte, ich mache es wie immer: Infomaterial holen, in ein Cafe, Tagesplan erstellen. Das wurde natürlich nix, weil nicht klar war, was es wo zu sehen gibt." Kaukika1 aus Seeheim-Jugenheim findet die mangelnde Beschilderung der Kunstwerke gar "eine Frechheit". "Das wirkt alles ein Stück weit unprofessionell", schreibt Peter S. aus Frankfurt.
Und doch bekommt die Documenta in den beiden Portalen durchschnittlich 3,5 von fünf Punkten. "Trotzdem auch schöne, gute, beeindruckende Kunst gesehen - die eine angemessene Präsentation verdient gehabt hätte", schreibt Ichwillsschö N. "Insgesamt waren die Mitarbeiter alle sehr freundlich“, meint Angi M. Harald C. gefielen die Documenta-Wahrzeichen von Hiwa K. und Marta Minujin, aber auch die "Wächter der Zeit" eines Trittbrettfahrer-Künstlers. Er kommt zu dem Urteil: "Wer sich für moderne Kunst erwärmen kann, sollte diese internationale Ausstellung nicht verpassen." 4 Punkte.
Wolfgang K. hingegen ist der Einzige, der mit der Kunst gar nichts anfangen kann: "Sehr viele Ansätze wurden gezeigt, die aus anderen Zusammenhängen längst bekannt sind. Kaum etwas Neues, kaum Provokantes ... aus künstlerischer Sicht mittelmässig bis langweilig." Deshalb: nur ein Punkt.
Neugiernase hat fünf Punkte allein fürs Fridericianum und die Ausstellung der Sammlung des Athener EMST-Museums. Aber: "Achtung: innen keine Gastronomie!" Auch Lema2014 mochte diesen Teil der Documenta: "Wir waren begeistert, wie unterschiedlich die Räume genutzt wurden. Hervorragende Themen, außergewöhnliche Kunst. Die Ausstellung stimmte enorm nachdenklich."
Natürlich ist das Bild, das sich auf diesen Empfehlungsportalen vermittelt, überhaupt nicht repräsentativ. Doch zeigt es den Willen und die Möglichkeit, die Documenta trotz Verisse und schlechter Vermittlung als lohnend zu empfinden. Für einen Abgesang ist es jedenfalls zu früh, für einen Abgesang ist vor allem auch der vermeintlich kleine Mann kein echter Kronzeuge, sondern nur eine von der großen Kunstkritik vorgeschobene Figur.