Modenschau von Victoria's Secret

Die Rückkehr der Flügelkämpfe

Die Wäsche-Präsentationen des Labels Victoria's Secret sind als sexistische Fleischbeschau in Verruf geraten. Nun hat die Marke ihre "Engel" zurück auf den Laufsteg gebracht. Hat sich wirklich etwas geändert?

Im November 2019 wurde die Victoria's-Secret-Show gecancelt. Nicht nur im Sinne von "einmal abgesagt". Sondern generell als Phänomen. Seit 2001 war die jährliche Modenschau des US-Unterwäsche-Labels im Fernsehen übertragen worden, fand jedoch ab den 2010er-Jahren immer weniger Zuschauer. Waren es 2013 noch 9,7 Millionen Interessierte, wollten 2016 nur noch 6,7 Millionen und 2018 schließlich 3,3 Millionen Menschen die zur Perfektion inszenierten Models anschauen, die mit Flügeln und in Reizwäsche über den Laufsteg stolzierten. 

Das alljährliche Spektakel soll an sich die Verkäufe gar nicht maßgeblich beeinflusst haben. Es ging viel mehr um einen Hype, gefüttert durch Supermodels und Auftritte berühmter Musikerinnen, der das Image der Marke kreieren sollte. Wer würde laufen? Wer würde performen? Was aber, wenn das Publikum langsam, aber sicher das Interesse an mageren Waschbrettbäuchen und Push-up-BHs verliert und auf Komfort und Inklusivität setzt?

Das passte nicht zum exklusiven Traum, den Victoria's Secret verkörpern wollte. Dass die Verkäufe einbrachen, war noch nicht einmal das größte Problem. Das war eher Marketing-Chef Ed Rezak. Der hatte 2018 der "Vogue" erklärt, auf dem Victoria's-Secret-Laufsteg sei kein Platz für Plus-Size-Models, das wolle keiner sehen. Auch Transgender-Modelle seien nicht willkommen, schließlich sei die Schau "eine Fantasie". Und zwar die eines "alten weißen Mannes", der durch geschicktes Marketing eine Unterwäschen-Scheinwelt erschaffen hatte, in der sämtliche pubertäre Illusionen von vermeintlicher Sexyness Wirklichkeit geworden waren. 

Ein Nebeneffekt der 2000er-Nostalgie

Neben Rezaks ungünstigen Statements fiel auch Les Wexner als CEO von Victoria's-Secret-Mitinhaber L Brands negativ auf, als seine langjährigen Verbindungen zum verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein publik wurden. Das Aus der Show wurde 2019 damit begründet, das Marketing weiterentwickeln zu wollen. Die generelle Stimmung der Konsumentinnen jedoch schien unversöhnlich, und auch Versuche der Marke, ihr Image wieder herzustellen, scheiterten größtenteils. 

Heute muss man sich fragen: "Do you believe in life after cancellation?" Denn die Victoria's-Secret-Modeschau ist zurück - samt eines Auftritts der 78-jährigen "Believe"-Sängerin Cher und einem Lauf der Model-Legende Kate Moss (50). Ist die Marke jetzt geläutert, oder hat sie sich ihren Weg zurück in die Herzen erschlichen, als Nebeneffekt der 2000er-Nostalgie? 

Der Zeitpunkt jedenfalls war clever gewählt. Nach einem kurzen Intermezzo der Branche mit größeninklusiven Models sind fast alle Luxus-Häuser zu den äußerst kleinen Standardmaßen zurückgekehrt. Von einer neuen Ära des "Heroin-Chic" wird gesprochen, der Schlankmacher Ozempic ist das Medikament der Stunde. Gerade jetzt eine einzelne Marke zu beschuldigen, ein mageres Erscheinungsbild zu bewerben, wäre scheinheilig. Victoria's Secret jedenfalls tat ihr Bestes, das Comeback der Modenschau am Dienstagabend in New York zu einem Erfolg zu machen. Lisa, Mitglied der südkoreanischen Girlband Blackpink, und Sängerin Tyla besangen neben Cher die vorbeilaufenden Models. Und auch hier hatte man sich nur auf die Crème de la Crème geeinigt. 

Die alten Engel sind auch die neuen

Bei Victoria's Secret 1.0 gab es intensive Castings, Video-Ausschnitte zeigten durchtrainierte, abgemagerte Models, die schluchzend auf die Knie fallen, als ihnen von einer großteils alten, weißen, männlichen Jury mitgeteilt wird, dass ihr hartes Training sich gelohnt hat und sie bei der Show mitlaufen dürfen. Es glich einem Ritterschlag. 

Wurde man auch noch zu einem "Angel" gekürt und damit zu einer Markenbotschafterin mit lukrativem Vertrag, war man einem 1990er-Supermodel so nahe wie sonst kaum mehr möglich. Diese einstigen Engel und Victoria's-Secret-Veteraninnen liefen nun wieder, nach sechs Jahren Pause. Adriana Lima, Alessandra Ambrosio, Behati Prinsloo, Candice Swanepoel oder Jasmine Tookes – sie alle waren bei der Wiederauferstehung ihres Karriere-Sprungbretts dabei. Sie trugen riesige Flügel oder Schleifen auf den Rücken, glitzernde, dramatische Spitzenunterwäsche, Satin-Kleider, Feder-Kostüme und durchsichtige Roben. Eine Zeitreise ins Jahr 2004 oder auch 2014, nichts schien Engel-untypisch, die perfekte Ed-Rezak-Fantasie.


Doch die wurde ab und an gestört, im besten Sinne. Bekannte Plus-Size-Models wie Ashley Graham, Devyn Faith Garcia und Paloma Elsesser schlossen sich dem Reigen an. Die trans Models Alex Consani and Valentina Sampaio liefen ebenfalls. Und, als "Grande Finale", die Laufsteg-Legende Tyra Banks, älter und mit mehr Kurven. Auch Eva Herzigova, 51 Jahre alt, durfte den Catwalk hinab schreiten, ebenso Carla Bruni, 56. 

Schwarze Models wie Anok Yai oder Maty Fall Diba erlebten ihr Debüt. Größe, Alter, Hautfarbe und Gender sind also keine Ausschlusskriterien mehr bei Victoria's Secret? Vielleicht. Und doch waren alle Protagonistinnen als kleine sexy Geschenke verpackt, servierfertig, jegliche Ansprüche des männlichen Blickes befriedigend. 

Die Modenschau 2024 sollte "widerspiegeln, wer wir heute sind", wie es in der Werbung für das Event hieß. Diese Schau sollte sich nach all den Kontroversen um die männliche Führungsebene wohl nur um Frauen drehen. Und klar, es laufen Frauen, es singen Frauen, es sitzen unter anderem Frauen im Publikum. Aber so war das auch vor sechs Jahren. 

Eine Werbeveranstaltung, kein Selbsthilfe-Workshop

Am Konzept, als "Engel" in Unterwäsche über den Laufsteg zu schweben, hat sich nichts geändert. Und dass Frauen dies für sich selbst machen, um sich gegenseitig zu empowern, ist auch wenig glaubwürdig. "Eine brandneue Victoria's-Secret-Modenschau, bei der Frauen das Ruder in die Hand nehmen und im Rampenlicht stehen", kündigt Tyra Banks' Stimme aus dem Off das Spektakel an. Andere Überschrift, aber gleicher Inhalt. Schön anzusehen, für die, die Frauen in Unterwäsche ansehen möchten. In den meisten Fällen also vermutlich Männer. Gibt es ein männlich besetztes Äquivalent, in dem ein Cast in winzigen Kostümen ihre hart trainierten Körper präsentieren, um sich zu stärken und zu ermutigen? Nein, wieso auch? 

Männer wollen sie, Frauen wollen so sein wie sie. Das ist das Motto, unter dem Victoria's Secret bisher seine Show-Engel und Produkte verkaufen konnte; ein offenes Geheimnis. Doch befreit man sich aus dem Denkmuster, Männern gefallen zu müssen, scheint eine solche Modenschau nur noch deplatziert.

Mit Bella Hadid, ihrer Schwester Gigi, 1990er-Supermodel Kate Moss und ihrer Tochter Lila im Ensemble, erregte die Marke ein enormes Aufsehen, gerade auf Social Media. Und darum geht es. Die Schau ist eine Werbeveranstaltung, kein Selbsthilfe-Workshop. Victoria's Secret ist keine Wohltätigkeitsorganisation, sondern ein Modeunternehmen, das im Jahr 2023 6,2 Milliarden US-Dollar Umsatz machte. "Im Oktober 2023 berichteten mehrere Medien über die Pläne von Victoria's Secret, ihr Rebranding rückgängig zu machen und zu ihrer früheren Marketingstrategie zurückzukehren. Die Entscheidung wurde getroffen, nachdem sich die anfängliche Umsatzsteigerung durch das Rebranding in einen Umsatzeinbruch verwandelt hatte", heißt es auf der Wikipedia-Seite. 


Sagt das nicht schon alles? Victoria's Secret ist wie ein Comedian, der nach einem sexistischen "Witz" darauf gewartet hat, dass vergeben und vergessen wird, um die Hallen wieder vollzumachen. Dabei geht es nicht um Läuterung, sondern um Umsatz. 

Die Show wurde auf Prime Video ausgestrahlt, auf Amazon konnte man die Looks in Echtzeit kaufen. Nur einen Klick vom Engel entfernt. Manchmal ist es gut, einst gefeierte und begeisternde, aber aus guten Gründen abgesägte Marken oder Phänomene ruhen zu lassen. Oder, um bei Cher zu bleiben, "there's no turning back"