Supermodel Twiggy wird 75

Die erste ihrer Art

Vor genau 75 Jahren wurde Lesley Lawson alias Twiggy geboren. Bis heute zeigt die Britin, was ein echtes Supermodel ausmacht: Es ist nicht austauschbar und kommt niemals aus der Mode

Wie sieht ein Supermodel aus? Groß, schlank, aber mit Kurven, wallendes Haar – und natürlich wunderschön? Vielleicht, denn die gemeine Assoziation ist vermutlich eine Fusion aus Cindy Crawford, Christy Turlington, Linda Evangelista und Naomi Campbell. Die Supermodels der 1990er-Jahre sind heute noch so präsent wie damals und haben den Begriff wohl am stärksten geprägt. Doch die erste ihrer Art wurde lange vor ihnen, in den 1960er-Jahren, gekrönt. Und dieses Model entsprach einem ganz anderen Schlag: Bubikopf, klein, schmal. So dünn sogar, dass es an ein Ästchen erinnerte. Wehalb das junge Mädchen bald den Spitznamen Twiggy verpasst bekam. 

Lesley Lawson, so ihr bürgerlicher Name, wurde vor genau 75 Jahren in London geboren und gilt als eines der ersten Supermodels der Welt. Nur mit ihrem Kosenamen bekannt, zierte sie die relevantesten Modetitel und prägte durch ihr markantes Äußeres eine ganze Generation. Und all das wegen eines Haarschnitts. Leonard Lewis, der Inhaber eines luxuriösen Friseursalons, verhalf der damals 15-Jährigen zu ihrem heute berühmten Look. Er schnitt ihr blondes Haar zu einem kurzen Pixie-Cut und verpasste ihr puppenhaft lange Wimpern, die er auf der Haut um ihre Augen herum durch schwarze Schminke verlängerte. 

Die gewagte Frisur wurde fotografiert und in dem Londoner Salon ausgestellt. Eine Modejournalistin und Kundin sah das heute ikonische Twiggy-Porträt an der Wand. Ihr gefiel der Look, und so lud sie das damalige Schulmädchen zu einem Interview ein. Kurz darauf wurde Twiggy von "The Daily Express" als "The Face of '66" und zur britischen Frau des Jahres gewählt. "Innerhalb eines Monats war ich überall in den Zeitungen, ich bekam Angebote, nach Paris zu gehen. Ich kann nicht sagen, dass es mir nicht gefallen hat. Ich habe es geliebt, es war brillant," erzählte Twiggy dem "Guardian". Ein Jahr später ging sie nach New York, und wurde noch berühmter.

Eine bestimmte Energie, die nicht austauschbar ist

Twiggy Lawson, wie sie sich auf Instagram nennt, hat heute 79.000 Follower. Hätte es die Plattform damals gegeben, wären es sicher mehrere Millionen gewesen, so wie heute bei den Hadid-Schwestern Bella und Gigi. In einem der jüngsten Posts schreibt Twiggy einen Abschiedsgruß an den Fotografen Barry Lategan. Er hatte damals das Foto für den Salon geschossen und damit das eine, erste Bild, das ihr zu dem Erfolg verhalf, den sie ihr Leben lang genießen durfte. 

In einem weiteren Post sieht man das Senioren-Supermodel in einem pinken Anzug. In der Caption kündigt Twiggy an, dass Sadie Frosts Dokumentation über ihr Leben Teil des Londoner Filmfestivals sein wird. Vor etwa 60 Jahren begann diese außergewöhnliche Karriere, und bis heute hält sie an. Das macht ein Supermodel aus: Es wird gebucht, weil es einzigartig ist. Es wird berühmt, weil es einen unverwechselbaren Look verkörpert, eine bestimmte Energie versprüht, für sich selbst steht. Es kommt niemals aus der Mode, egal wie alt. 

Man wollte Twiggys Gesicht und ihren Körper auf Magazinen, auf dem Laufsteg und in Kampagnen sehen. Sie diente nicht als bloßer Kleiderbügel oder Figurine, der etwas angezogen wurde. Sie war nicht austauschbar. Im Gegenteil, sie definierte die Trends und den Zeitgeist. 

"Ich war dieses lustige, dünne kleine Ding mit Wimpern"

Anstatt dem damals weiblichen, kurvigen Ideal zu entsprechen, fiel Twiggy durch ihre Androgynität auf. "Im Gegensatz zu den Bombshell-Blondinen und Glamour-Models der 50er-Jahre verkörperte Twiggy mit ihrem schlaksigen Körper und ihrem mädchenhaften Charme das junge, sexuell befreite 'Single Girl"' das aus den feministischen und Jugend-Bewegungen der 60er Jahre hervorging", erklärt es die Plattform Wearzeitgeist. Ihr freches, jungenhaftes Äußeres und ihr ungewöhnlicher Mod-Look formten sie zu einem Symbol des kulturellen Wandels. 

Doch sie repräsentierte nicht nur eine bestimmte Ästhetik, sondern stand für Emanzipation und ein neues Verständnis von Mode und Selbstdarstellung. Der Look der 1960er-Jahre lässt sich ohne den Fokus auf Twiggy kaum beschreiben. Das macht sie zu einer Ikone ihrer Zeit.

Bei ihrer Ankunft in New York City wusste jeder, wer Twiggy war. Menschenmassen versammelten sich um das Model, trugen Masken mit Twiggy-Gesicht. "Ich war dieses lustige, dünne kleine Ding mit Wimpern und langen Beinen, das damit aufgewachsen ist, sein Aussehen zu hassen", verriet sie in einem Interview. "Ich dachte, die Welt sei verrückt geworden." 

Was Twiggy trug, wollten alle tragen

Bald zierte sie "Vogue"- und "Elle"-Cover, reiste nach Frankreich und Japan. Große Fotografinnen und Fotografen wie Annie Leibovitz und Norman Parkionson lichteten sie ab, und so entwickelte sich Twiggy zischen 1967 und 1970 zu einem weltweiten Phänomen. Auch, weil ihr die in Mode kommenden, steigenden Saumlängen und wilden Muster unglaublich gut standen. Und was sie trug, wollten alle tragen.

Eine Mode-Innovation der Dekade war der durch Mary Quant groß, oder eher winzig gewordene Minirock. Je kürzer der Saum, desto mehr Beinfreiheit. Der Trend ging einher mit der sexuellen Befreiung der Frauen und einer vorher kaum erlebten ökonomischen und sozialen Unabhängigkeit. 

Viele Fotografien von damals zeigen Twiggy in dem kurzen Rock, gepaart mit Mary-Jane-Schuhen, Kniestrümpfen oder bunten Strumpfhosen. Auch in Shift-Kleidern wurde das Model oft abgelichtet. Das über dem Knie endende, A-förmig ausgestellte Dress sollte das einschränkende Sanduhr-Kostüm ablösen, das durch Christian Diors "New Look" in den 1950er-Jahren die Silhouette bestimmt hatte. Jetzt konzentrierte sich alles aufs Bein, auf Bequemlichkeit und Beweglichkeit.

Alles wirkte modern und begehrenswert

Der Trend zu knallbunten Strumpfhosen folgte als Konsequenz. Nylon, Polyester und Spandex, neu entwickelte Materialien, trug Twiggy in allen erdenklichen Farben. Sie dienten als eine Art verspielter Ausgleich zu der sexy Oberbekleidung. Space-Age-Looks, psychedelische Muster, Swing Coats, Häkel-Mode, von der Männercouture inspirierte Anzüge und die sogennanten Go-Go-Boots: Twiggy machte sich all die Modetrends der 1960er zu eigen und bespielte etliche Editorials in den bekanntesten Magazinen. Jedes Kleidungsstück wirkte modern und begehrenswert an ihr. Einen ähnlichen Effekt sollte rund drei Jahrzehnte später Kate Moss haben. 

Ein wahres Supermodel gleicht einem Celebrity, ist ein Star. Doch trotz ihres großen Erfolgs verkündete Twiggy schon 1970 ihren Abschied vom Modebusiness, um sich der Schauspielerei zu widmen. 

So waren es tatsächlich nur vier Jahre, die Twiggy als Vollzeit-Model verbrachte und die sie als eine wahre Legende verewigen sollten. Lesley Lawson gewann zwei Golden Globes für ihre Rolle in dem romantischen Musical "The Boy Friend". Für ihre Rolle in dem Broadway-Musical "My One and Only" wurde sie in den 1980er-Jahren für einen Tony Award nominiert. 

"Ich hatte ein sehr glückliches Leben"

Auch ein Musikalbum namens "Midnight Blue" veröffentlichte sie 2003. Sie arbeitete mit David Bowie zusammen und besuchte Hollywood-Partys mit Elizabeth Taylor, doch erreichte nie ganz die Höhen ihrer frühen Karriere. "Ich habe ein paar Filme gemacht, die nicht so gut waren, das macht jeder. Aber ich denke, ich habe eine brillante Karriere gehabt. Und was noch wichtiger ist, ich hatte ein sehr glückliches Leben", sagte sie im "Guardian". 

Ihr Einfluss als das erste Supermodel ist noch heute spürbar. Auch wenn sie keine Cover mehr ziert, sondern dafür in ihrem Podcast "Tea with Twiggy" zu hören ist. Sie reflektierte vor kurzem in einem Artikel im "Guardian" die Fixierung der Mode auf das extreme Schlanksein, das auch ihr Erkennungsmerkmal war. "Ich glaube nicht, dass sich die Modeindustrie jemals völlig von der Schlankheit verabschieden wird, aber ich denke, dass andere Teile der Branche begonnen haben, andere Formen und Größen zu verwenden, und ich denke, das sollten sie auch", erklärte sie. In jedem Sinne kann man also sagen, Twiggy ist gut gealtert.