Der Stiefelschaft wächst mit dem Wasserstand. Am gestrigen Donnerstag hat Bundeskanzler Olaf Scholz erneut ein von Hochwasser betroffenes Gebiet in Deutschland besucht, Sangerhausen im Südharz. Während er bei seiner Visite in Verden an der Aller bei Bremen noch in braunledernen Halbschuhen aufgekreuzt war, wurde er nun endlich in Gummistiefeln gesichtet: kurz unter dem Knie endende schwarze Modelle, kombiniert zur Jeanshose und einem navyblauen Allwetter-Mantel.
Bei seinem ersten Hochwasser-Termin hatte der Kanzler durch sein unpassendes Schuhwerk den knöchelhohen Pfützen ausweichen müssen und war damit negativ aufgefallen. Gestern aber schien er gerüstet und konnte souverän den Schlammwehen und Wasserlachen trotzen. Gummistiefel finden sich in jedem Kindergarten en masse, Festivalgänger können nicht ohne sie, und ab und an erleben sie einen wahren modischen Peak. Die kurze Frosch-Version aus JW Andersons Herbst-Winter-2023 Herren-Kollektion etwa, die er in Kollaboration mit Wellipets kreiert hat.
Die niedlichen Gummischuhe lösten einen viralen Modemoment aus, deren Inspirationsquell aus der Garderobe der britischen Prinzen Harry und William stammte. Zu Zeiten, in denen Prinzessin Diana sie noch auf dem Arm umhertrug, hatten sie kleine grüne Stiefel mit Froschgesicht an den Füßen. Designer Jonathan Anderson sagte, auch er habe als Kind ein Paar besessen. Seine Neuauflage sei auch durch Nostalgie motiviert und brächte seine "heimeligen Kindheitserinnerungen" zum Ausdruck.
Im Sandkasten und auf dem Laufsteg sind sie also erlaubt, an den Füßen des mächtigsten Mannes Deutschlands sorgen sie für Diskussionen. Vielleicht gerade weil sie so kindlich und unschuldig daherkommen. Ein "Schaulaufen" nennen Anwohnerinnen Scholz Besichtigung, wünschen sich eine bessere Koordination, glauben nicht, dass sich nach dem Besuch etwas ändert.
Dabei verrät doch schon die Schuhwahl des Kanzlers: Ich fühl mich euch nahe, ich bin für euch da, ich bin das Volk! "Kanzler lieben Gummistiefel", so heißt sogar ein Buch. Untertitel: "So funktioniert Politik". Ein Kapitel sollte lauten: Möchtest du eine Wahl gewinnen und generell die Stimmenanzahl nach oben korrigieren, besuche Krisengebiete – in Gummistiefeln. Wenig lässt ein hohes Tier so auf dem Boden geblieben wirken.
Im Jahr 2002 zeigte sich Alt-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) engagiert und anpackend während der Jahrhundertflut an der Elbe, passenderweise kurz vor der Bundestagswahl. In grüner Regenjacke und schwarzen Gummistiefeln schüttelte er Hände und beäugte die Situation aus nächster Nähe. Obwohl er in den Meinungsumfragen deutlich hinter seinem Kontrahenten Edmund Stoiber (CSU) gelegen hatte, gewann er die Wahl knapp, auch den Gummischuhen sei Dank. Wird sich gegen das unförmige Schuhwerk gesträubt, folgen negative Konsequenzen quasi sofort. Anna-Lena Baerbock konnte 2021 einen Termin am Deich nicht wahrnehmen, sie hatte keine passende Fußbekleidung dabei.
Von pragmatisch zu elegant
Keine anderen Schuhe sehen so zweckmäßig und beinahe unbeholfen aus wie ein Paar Gummistiefel. Keine Schleife muss gebunden werden, nicht mal ein Klettverschluss geschlossen. Ausschließlich tragbar zur Jagd, bei einer Moorwanderung oder eben, und wohl dank Klimakrise immer öfter, bei Hochwasser-Katastrophen.
So sollte man zumindest meinen, doch über die Jahre hat der unförmige Stiefel sein pragmatisches Image aufpoliert. Vertreten als Luxus-Variante bei Chanel in der Herbst-Winter-Kollektion 2022/23, trugen weltweit Influencerinnen vor einem Jahr den Gummischuh mit zwei ineinander verschlungenen Cs. Die französische Marke Coperni bietet gerade hochhackige, schwarze Gummistiefel an, das vermutlich sexyeste Paar auf dem aktuellen Markt. Auch bei Versace, Burberry und Elena Velez liefen in der vergangenen Saison Gummistiefel über den Laufsteg. Funktional und chic mit einem kleinen Touch unbedarfter Spielplatz-Nostalgie.
Balenciaga, das Königreich der Ugly-Schuhe, verkauft comichaft-abstrakte, schwarze Gummistiefel mit Profilsohle und Absatz. "Trooper" heißt das Modell. Ein weiteres läuft unter dem Namen "Steroid". Hier spannt sich das Obermaterial übertrieben rund, wie eine Kuppel über den Fuß, was den Schuh wie das gezeichnete Lieblingsaccessoire eines unfreundlichen Disney-Charakters wirken lässt.
Einmal wie Kate Moss durch den Schlamm waten
Gerade die Romantisierung des englischen Königshauses, aktuell durch "The Crown" und den generellen Hype um den Prinzessin Diana-Gedächtnis-Looks, half dem Schuh zu einem erneuten Aufstieg. Elegant-praktische Hunter Boots, der Understatement-Klassiker unter den Gummistiefeln, kannte man von Bildern der Prinzessin der Herzen. Neben Prinz Charles stand sie mit khakifarbenen Hunters im Grünen, vor ihnen ein Labrador – Idylle. Mitte der 2000er-Jahre sah man das Modell dann vor allem an Kate Moss' Füßen während des Glastonbury-Festivals.
Das Bild des Models, wie es im Jahr 2005 in glitzernder Tunika, schwarzem Hüftgürtel und schwarzen Hunter-Boots durch den Schlamm auf dem Festivalgelände watet - Lover Pete Doherty an der einen Hand, eine Packung Zigaretten in der anderen - sollte zur bestmöglichen Werbung der Marke werden. Die Fotos sind fast schon ikonisch, und ihr Erfolg lag auch hier wieder in der offensichtlichen Bodenständigkeit: im Festival-Matsch sind wir alle gleich, auch Supermodels können nicht elfengleich über dem Musik-Morast tänzeln. Bald trugen auch die britischen It-Girls Alexa Chung und Cara Delevigne Hunter-Boots, der funktionale Schuh wurde zum Hype, so wie vor kurzem erst Crocs und Salomon-Wanderschuhe. Im Jahr 2007 verkündete Hunter einen Umsatzanstieg von 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Im vergangenen Jahr musste die Firma trotz Stiefel-Trend Insolvenz anmelden und wurde von der Authentic Brands Group übernommen. Die Qualität hatte gelitten, Covid-19 und die Inflation hatten ihr Übriges getan. Das Unternehmen machte jedoch vor allem das für die Jahreszeit untypisch warme Wetter auf seinem größten Markt, den Vereinigten Staaten, für den Rückgang der Nachfrage verantwortlich. Andererseits bleibt zu bedenken, dass um die 160 Euro für Schuhe aus Gummi ein Investment sind, das nicht jeder eingehen will oder kann. Etwa die, für die Gummistiefel ein essenzieller Teil ihrer Arbeitsuniform sind und kein modisches Gimmick: Landwirte.
Ländliche und rustikale Assoziationen beim Anblick der Stiefel kommen nicht von Ungefähr, dienen sie doch Bauern und Bäuerinnen jenseits aller Trends als Arbeitsschuh. Und auch die setzen damit aktuell ein politisches Statement. Überall in Deutschland hängen Gummistiefel von den Ortsschildern – eine Protestaktion gegen die geplanten Subventionskürzungen der Ampel-Regierung. Steuervergünstigungen beim Agrardiesel und auch die Kfz-Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Fahrzeuge wollte diese streichen, was nach Ansicht der Lobbyverbände die Existenzen kleinerer, familiengeführter Betriebe bedrohen würde. So baumeln die Schuhe als wütendes Zeichen und als Warnung: "Wenn die Landwirte ihre Gummistiefel an den Nagel hängen, dann ist Schluss mit regionalen Lebensmitteln". Inzwischen will die Ampel ihre Pläne offenbar nochmal überdenken und teilweise zurücknehmen.
Wenige Schuhe haben ein so symbolträchtiges Momentum wie der Gummistiefel. Kaum einer ist so politisch aufgeladen, bei keinem anderen ist es so entscheidend, ihn zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu tragen. Auf wenige andere Fußbekleidungen können sich so viele unterschiedliche Parteien einigen: Supermodels, Influencerinnen, Landwirte und Olaf Scholz. Sie alle tragen Gummistiefel und können damit zwar nicht über, aber immerhin durch Wasser laufen. Ein Schuh, der Seinesgleichen sucht – und eventuell einen Seelenverwandten in der navyblauen Allwetter-Jacke gefunden hat.