Der Kunst-Parcours "Folkwang und die Stadt" findet sein Zentrum ausgerechnet auf einer Insel. Um dieses von Abgas und Lärm umtoste grüne Eiland erreichbar zu machen, spendete die Stadt Essen sogar eine Fußgängerampel. Jetzt ist aus dem Nicht-Ort, der Verkehrsinsel auf dem Pariser Platz in der nördlichen Essener City, ein Kunst-Ort geworden. Wer sich aus dem Auge des Kreisverkehrs umsieht, erblickt in der umgebenden imposanten Architektur Vertreter zentraler Institutionen und Interessen der Stadtgesellschaft. Unterhaltung als Multiplexkino, das Logo der Jobagentur, ein Theater, eine Shopping-Mall für den Konsum und die Zentrale der Funke-Mediengruppe.
Deren News-Tower bespielt etwa der Künstler Jeremy Deller, der unter die aktuellen News (sehr) gelegentlich welche von vor 100 Jahren, aus dem Folkwang-Gründungsjahr, spielt. Gut kuratiert ist es kein allzu großes Problem, die Nachrichten von Kriegen, Seuchen, Inflation und anderen Krisen aktuell wirken zu lassen.
Schaut man sich auf dem Platz um, so hat sich der Kreisel in einen recht wild wuchernden Garten namens "Eco Village" verwandelt, in dem sich engagierte Vertreter der Stadtgesellschaft präsentieren. Das reicht von Fridays For Future über erweiter- und wiederverwendbare Fertigarchitektur bis zu Hochbeeten und geretteten Bäumen. Lediglich eine Saatgut-Skulptur von Gabriela Oberkofler kann im Pop-up-Garten vornehmlich der Kunstwelt zugeordnet werden. Überhaupt wird bei vielen der 18 Stationen an die Verzahnung mit der Stadtgesellschaft gedacht. Die Leitung dieses Projektes, das zeitlich die Achse zwischen den großen Jubiläumsshows im Folkwang-Museum bildet, obliegt Markus Ambach, der ja 2010 schon einmal mit "B1 / A40 – Die Schönheit der großen Straße" im Ruhrgebiet an unwirtlichen Orten nach Schönheit fahndete.
Suchen musste auch Folke Köbberling. Für "Nachbarschaft auf Zeit" wurden 20 Anwohner gebraucht, die sich um eine kleine Schafherde kümmern sollten. Das Finden gelang wohl, doch die Bereitschaft der Nachbarschaft in Richtung der schicken Neubau-Appartements im Townhouse-Stil hielt sich dem Vernehmen nach in Grenzen. Ein Blickfang ist der mit Schafwolle versiegelte Verhau der Tiere allerdings schon. Hier werden auch ökonomisch komplexe Zusammenhänge verhandelt, etwa der Wertverfall der Wolle, die den Schafen den Status des Produzenten entzieht, sie also quasi arbeitslos macht.
Die Menschen machen eine Stadt
Unweit davon hat Fari Shams einen Doppelgänger der Skulptur "Das Eherne Zeitalter" von Auguste Rodin platziert. Dessen Blick blockiert nun, durchaus etwas plakativ, ein Mobiltelefon. Unfreiwillig (?) bekommt das Werk einen kriminell-performativen Charakter, wird doch die Mobiltelefonattrappe unter nicht geringem Aufwand regelmäßig über Nacht entwendet und muss ersetzt werden.
Ein spezieller Ort wurde für die Video- und Soundinstallation der Essener Choreografin Fang Yun Lo gefunden. "ASIA Restaurant" ist als immersive Installation im verlassenen China-Restaurant "Mayflower" zu sehen und hören. Hier werden in unwirtlicher Lost-Place-Atmosphäre vier Migrationsgeschichten aus Vietnam erzählt.
Andere urbane Orte mit neuem Kunstinhalt sind ein Tattoo-Studio, wo Besucher sich auf Folkwang-Kosten eines von vier expressionistischen Motiven aus der Sammlung des Folkwangs stechen lassen können (gut ausgewählt, denn die Motivation dazu dürfte entsprechend nicht allzu hoch sein). Damit will Jeremy Deller aber auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass Tattoo-Künstlerinnen und -Künstlern die Aufnahme in die Künstlersozialkasse nicht verwehrt werden sollte. Oder der seit acht Jahren verlassene Techno-Nachtclub "Naked", in dem eine Arbeit aus der Sammlung des Essener Museums temporäre Heimat findet und zum Publikumsliebling wurde. "Universal Tongue" von Anouk Kruithof zeigt stundenlange Projektionen von Tausenden Youtube-Schnipseln mit tanzenden Menschen mutmaßlich aller möglichen Tanz-Kulturen.
"Folkwang und die Stadt" beeindruckt mit einer schier unübersichtlichen Menge an Protagonisten, die ein überkomplexes Panorama einer modernen Großstadtgesellschaft schaffen. Was bleiben wird davon? Auf jeden Fall einige Nachbarschaftskontakte, vielleicht eine begrünte Verkehrsinsel und eventuell irgendwo eine expressionistische Tätowierung.