Valentino-Schau in Paris

Es sind nie nur Kleider

Das Valentino-Debüt von Alessandro Michele war die am sehnlichsten erwartete Schau der Pariser Modewoche. Der ehemalige Gucci-Designer stieg tief ins Archiv seines neuen Hauses hinab - und fand dort Extravaganz und Freude

An Alessandro Michele scheiden sich die Geister. Die einen lieben den Designer für seine Opulenz und die fantastischen Geschichten, die er mit seiner Mode erzählt. Die anderen sehen in seinen Entwürfen überladene Kleider und Vintage-Kostümierungen. 

Michele hatte das Traditionshaus Gucci nach einer Tiefschlafphase, in die das italienische Modehaus nach dem Abgang von Tom Ford 2004 gefallen war, wiederbelebt. Sein Stil so markant und einzigartig, dass für viele, die die Geschichte der Marke nicht kennen, Gucci mit Michele gleichzusetzen ist. Dabei hat das Unternehmen schon viele verschiedene Strömungen durchlaufen, Michele hatte die Codes und Gucci-typischen Elemente bloß in seinem eigenen Stil neu interpretiert.

Würde das gleiche nun bei Valentino passieren? Michele war Ende März als neuer Kreativdirektor des italienischen Luxus-Labels vorgestellt worden, sein Debüt bei der Pariser Modewoche war die wohl am sehnlichsten erwartete Schau der Saison. Im Juni hatte Michele schon ein Lookbook der Resort-Kollektion 2025 veröffentlicht. 171 Entwürfe, die einen Vorgeschmack auf die Frühling-Sommer 2025-Kollektion geben sollten; man könnte sagen, es waren "valentinische" Instrumente, aber "michelarisiert". 

Ein Ausflug ins Archiv

"Mr. Valentino ist immer irgendwo bei mir", hatte Alessandro Michele einige Tage vor der Pariser Show im Podcast "The Business of Fashion" erklärt. Tief war er in das Archiv des Modeschöpfers und Firmengründers Valentino Garavani (heute 92) eingetaucht, schon an seinem ersten Tag im neuen Job. "Ich kümmere mich nicht darum, erinnert zu werden, mir ist wichtig, jetzt am Leben zu sein", liest sich im Gegensatz dazu ein Zitat Garavanis. Nun war vor allem dessen Erbe zur Geburtsstunde eines neuen Valentino lebendig. An dem sich natürlich die Geister scheiden sollten. 

Die Zuschauenden bei der Paris Fashion Week fühlten sich selbst, als würden sie ein gut konserviertes Archiv entdecken. Im Pavillon des Folies in der französischen Hauptstadt wartete eine Szenerie aus verhülltem Mobiliar unter transparent-weißen Decken. Ein verwunschener Dachboden, auf dem alte Schätze warten. Oder das Haus eines Fremden, das man betritt. Der Boden war mit gebrochenem Spiegelglas ausgelegt. "Eine Enthüllung, eine Reflexion, eine Offenbarung", heißt es auf dem Intsagram-Kanal des Maison Valentino. 

Dabei handelte es sich um ein Kunstwerk mit dem Titel "Passi" von Alfredo Pirri, auf dem der Designer seine 85 Looks wie durch ein Labyrinth und von allen Winkeln beleuchtet dem Publikum präsentierte. Dahinter steckte, ganz Michele-getreu, eine vielschichtige und emotionale Botschaft, die er in den Shownotes offenbarte: "Wir sind fragile Kreaturen, immer dem Gefühl der Begrenztheit ausgesetzt. Wir laufen auf Zehenspitzen auf Spiegeln, die unter unserem Gewicht zerbrechen. Während wir laufen, setzen wir keinen Schritt ohne das Risiko des Stolperns und Fallens."

Das schwer zu fassende Konzept der Schönheit 

Letztlich kreiste die Seele seiner Kollektion um das schwer zu fassende Konzept der Schönheit: Ästhetik als Anker, der uns in dem Irrenhaus namens Leben beruhigt, als die Heilung, die das Reale verlangt. "Wenn ich Schönheit sage, dann meine ich sicher nicht die universelle, dogmatische und normative Mythologisierung. Ich spiele vielmehr auf die einzigartige Fähigkeit an, sich tief in etwas hineinzufühlen und sich mit etwas zu verbinden, das ein neues Universum der Bedeutung enthüllt und offenbart: eine Epiphanie, in der die Verbindungen zwischen uns, den Dingen und den Lebewesen, unmittelbar sichtbar werden." 

Diese Art von Genealogie wird Michele bei seiner Entdeckung und Vereinnahmung des Valentino-Archivs verspürt haben. Und alle, die sich über "Gucci 2.0" beschweren, sollten genau dort einen Blick hineinwerfen. Das erste Model, das über den gläsernen Laufsteg schritt, trug ein Kleid in Trompe-loeil-Optik, das einen schwarzen Frack zitierte, auf der Brust drei schwarze Fliegen. Hier hatte Michele sich an einem Haute-Couture-Look aus dem Jahr 1990 bedient. Ein übergroßer, breitkrempiger, roter Hut zierte den Kopf eines Models im schwarzen Midi-Kleid. Eine noch ausladendere Version hatte Mr. Valentino für seine Frühling-Sommer-Kollektion 1994 gezeigt. Ein blumiges Ensemble aus seidener Spitze und voluminösen Rüschen von Michele war so ähnlich in derselben Kollektion vorgekommen. Ein Hut mit einer großen, schwarz-weiß gestreiften Feder stammte aus einer Herbstkollektion von 1971. Ein Kostüm aus mit Perlen besticken Jäckchen, passenden Rock und dazu mehrreihiger Perlenkette erinnerte sehr an einen Look aus der Herbstkollektion von 1990. 

Polka-Dots, ein Motiv, das Valentino Garavani häufig nutzte, verteilte Michele großzügig auf Kleidern und Blazern. "Ich habe Punkte nie gemocht", erklärte er nach der Show. "Aber sie haben eine starke Hebelwirkung, und es ist fast unmöglich, sie zu verändern. Hier zeigen sie einer neuen Generation, dass es möglich ist, auf disziplinierte oder widerspenstige Weise schräg schick zu sein."

Schleifen gegen den stillen Luxus

Michele verband seine Nostalgie für vergangene Jahrzehnte und seine Hommage an Valentino mit seinem Verständnis für zeitgemäße Mode. Dabei ging er, wie einst bei Gucci, in die entgegengesetzte Richtung von allem, was als Trend bezeichnet werden kann. Während seiner zwei Jahren Pause von der Modewelt, hatte sich quiet luxury etabliert, ein höchst minimalistischer und vom Understatement lebender Stil. 

Alessandro Michele stellte sich dieser Strömung mit Schleifen, Rüschen, Farben und Stickkunst entgegen. Mit bodenlangen, mehrlagigen Seiden-Roben, bunten Spitzen-Strumpfhosen, Pelz-Säumen und Stolen. Die 1970er-Jahre waren klar präsent. Daneben tauchte immer wieder Denim zu couturigen Oberteilen auf, das klassische Valentino-Rot und auch das V-Logo wurden gekonnt eingesetzt. 

Die Accessoires waren ausschlaggebend: Spitzenhandschuhe, verzierte Taschen, oft im Doppelpack getragen, Volant-Krägen, mehrreihige Ketten, Gürtel mit Quasten. Dazu kleine Beanies, seidene Turbane und ausladende Hüte. Gesichtspiercings an Nase und Mund und auf die Schultern fallende Ohrringe gaben der Kollektion einen modernen Touch.

Der Vintage-Hype der Generation Z

Man kann sich das "Gossip Girl" Blair Waldorf aus der gleichnamigen Serie in den Entwürfen vorstellen: elegant, klassisch, aber gleichzeitig romantisch, delikat und feminin. Dem Vintage-Hype der Generation Z in die Hände spielend. Jacopo Venturini, der CEO, der Michele zu Valentino holte, beschrieb diese Entscheidung als "die dringende Notwendigkeit, wieder Wünsche und Emotionen zu wecken". Micheles Werk ist wie immer ein Abtauchen in eine von ihm geschaffene Welt, in eine Geschichte. Es sind nie nur Kleider. 

So erklang als Soundtrack "Passacaglia della Vita", die Neuauflage eines Liedes aus dem 17. Jahrhundert über die zyklische Natur des Daseins. "Joy we must find", liest sich eine Zeile dieses Stücks, und "Joy has to flow". Diese Kollektion hat eine neue Freude an Mode provoziert, so hörte man es auch nach dem Finale der Schau von Branchen-Insidern. Die Extravaganz ist zurück, Michele ist zurück, Und ein Warten auf seine erste Couture-Show im Januar wird sich anfühlen wie eine Ewigkeit.