Malunterricht erhielt Palina Ringe schon als sechsjähriges Mädchen am Kunstlyzeum der südrussischen Industriemetropole Toljatti. Mit 13 kam sie nach Deutschland wie in eine fremde Welt. Nach Abitur und Studienabschluss an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat sie, öffentlich unbeachtet, über Jahre hinweg an ihrem eigenen Stil gearbeitet. Obgleich figurativ und expressiv, sind ihre großformatigen Bilder alles andere als akademisch. In ihren Bildern ist der Weg einer Einzelgängerin zu erkennen; die – erzwungene oder erkämpfte – Unabhängigkeit eines Talents, das sich völlig unbeeindruckt von Märkten, Trends und Moden entwickelt hat.
Diese ungewohnte und seltene Qualität eines ästhetischen Selbstverständnisses ohne Kalkül und Kompromisse teilt sich auch dem Betrachter mit. Es ist eine Intensität eigener Art, die jenseits von Virtuosentum oder Meisterschaft liegt. Man könnte auch schlicht sagen, Palina Ringes Bilder sind in einem tiefen Sinn empfunden.
"Namen haben mich nie interessiert." Die Kunstgeschichte ist ihr zur Gänze geläufig, aber für ihre radikale Suche nach dem eigenen Ausdruck weder hilfreich noch hinderlich. Diese Suche nach dem Inneren und Eigenen beginnt bei jedem Bild aufs Neue. Fast könnte man glauben, man hätte es mit einer großen Naiven zu tun – doch weit gefehlt. Ihre Entscheidung zu künstlerischer und existenzieller Autonomie ist völlig bewusst und von luzider Klarheit. Es ist einfach diejenige Lebensform, die ihrer Produktivität am besten dient. Aber was heißt Produktivität? Jedes ihrer Bilder ist eine Selbstpreisgabe. "Bei einem Bild kann ich bloß das nach außen tragen, was in diesem Moment in mir selbst liegt." Die Analogie zu einer Geburt ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Dazu gleich mehr.
Palina Ringe malt Bilder menschlicher Körperlichkeit, doch keine Akte im landläufigen Sinn. Nicht das Sujet überrascht, sondern seine explosive Unmittelbarkeit. Die Großformate lassen Raum für Schönheit, Freiheit und Lust, aber auch für Bedrohung, Gewalt und Zerstörung. Keine Porträts, eher Archetypen: Gesichter von Menschen, die selbst nicht wissen, wie ihnen geschieht. Ihre Bilder durchbrechen die Leere der Beliebigkeit und finden dahinter eine menschliche Archaik, die zugleich beängstigend und betörend ist.
Nach Jahren des Reisens und künstlerischen Experimentierens lebt sie seit dem Sommer 2024 als artist in residence auf Schloss Dornburg an der Elbe. Es ist ein Schloss mit hundert Zimmern, dass einst die Mutter von Katharina der Großen im 18. Jahrhundert errichten ließ, aber niemals selbst bewohnte. Ein surrealer Ort, umgeben von alten Platanen und riesigen Eichen, deren Wurzeln bis ans nahe gelegene Wasser reichen. Alle hundert Zimmer stehen leer, nur der ehemalige Ball- und Bankettsaal ist zu einem Atelier der besonderen Art umfunktioniert. Nennen wir es Kreißsaal.
Hier entstehen die Großformate der Künstlerin. Es ist der Kampf des Ausdruckswillens gegen die Leere, der Spontaneität gegen das Gekünstelte. Oder in den Worten von Palina Ringe: "Es malt mich. Ich führe lediglich den Pinsel." Das ist nicht esoterisch zu verstehen oder nur insofern, als für sie der unmittelbare Akt des Malens eine Grenzerfahrung des Unbewussten ist. Ihre besten Bilder erreichen daher auch eine anthropologische Dimension.
Die Geburt der Malerei aus weiblichen Intuition
Die Form dieser unerbittlichen Selbstexploration ist bemerkenswerterweise die Live-Performance. Innerhalb von einigen Stunden entsteht aus dem scheinbaren Nichts eine sinnhafte Komposition. Ein intimes Unikat, dessen konzentrierten Entstehungsprozess der Betrachter mitverfolgen kann: Die Geburt der Malerei aus dem Geist der weiblichen Intuition.
Leinwand, Pinsel und Farbe genügen vollkommen, um ein Höchstmaß an Intensität zu erzielen. In einer hysterischen Welt der Hyperkommunikation und Plastifizierung, der digitalen Vervielfältigung und des Authentizitätsverlustes, zeugen Palina Ringes Bilder von einer ebenso scharfsinnigen wie unschuldigen Reduktion. Und während vor den eigenen Augen wie von Zauberhand ein ernstzunehmendes Kunstwerk entsteht, fällt einem der klassische Satz von Hugo von Hofmannsthal ein: "Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche."