Eine weiße Wand mit leeren Schutzumschlägen. Die Beschriftung ist nicht zu sehen, zwei Klammern links und rechts halten die Hüllen auseinandergezogen wie ein Kleidungsstück, das sich plötzlich weit öffnet. Maarit Bau Mustonens Arbeit "Nudes" spielt mit dem Motiv der Entblößung: Die Bücher, die die Umschläge einst einfassten, werden gleichsam nackt. Die Wissenschaft, die sie repräsentierten, steht plötzlich ohne Kleider da. Die entwaffnende Geste der Öffnung lässt sich durchaus metaphorisch lesen. Denn nichts weniger als eine Dekonstruktion der herrschenden Episteme hat sich Naz Kocadere Ulu vorgenommen.
Die junge Kuratorin und Kritikerin, studierte Kommunikationsdesignerin und Kulturmanagerin ist ein weiteres Beispiel für eine jüngere Generation von Kunstschaffenden am Bosporus mit ausgeprägt kritisch-intellektuellem Interesse. Für die Dauer eines Jahres war die Istanbulerin Curatorial Fellow an der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK), ermöglicht durch ein großzügiges Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und des Freundeskreises der Galerie, das dem künstlerischen Nachwuchs zudem ermöglichen soll, seine Arbeit in Form einer Ausstellung zu präsentieren.
"Outspoken. Stimmen jenseits des Archivs", so der Untertitel von Ulus Zusammenstellung, klingt nach einem derzeit im Kunstfeld beliebten Trendthema. Dem engeren Gedanken, einen hegemonialen Kanon oder akademische Deutungshoheit aufzubrechen, am nächsten kommt noch Larissa Araz.
Politische Tiernamen
Die Serie "in Hoc Signo Vinces / In diesem Zeichen wirst Du siegen" der Istanbuler Künstlerin spielt auf die ab 1840 beginnenden Expeditionen kolonialer und imperialistischer Wissenschaftler in viele Länder des Osmanischen Reiches bis zur Gründung der Republik 1923 an. Viele dieser Forscher entdeckten in Anatolien und Mesopotamien Arten, die zuvor in der westlichen wissenschaftlichen Literatur nicht erfasst worden waren und kreierten Tierklassen wie Vulpes Vulpes Kurdistanica, Ovis Armeniana oder Capreolus Capreolus Armenius.
2005 entfernte das türkische Umwelt- und Landwirtschaftsministerium in einem Akt von Identitätspolitik diese Herkunftsbezeichnungen. Die ethnischen Gruppen, die sie aufriefen, werden in der Türkei als Gefahr für die homogene türkische Nation betrachtet. Die Behörde ließ die Wörter "Armenien" und "Kurdistan" aus den Namen dieser drei Tierarten - einem Fuchs, einem Wildschaf und einem Reh - tilgen und ersetzte sie durch "Anatolien" und "Ost".
Wer den Raum mit den Arbeiten betritt, glaubt, plötzlich auf eines dieser am Boden entlanglaufenden Tiere zu treten. Die Videoprojektion setzt die Betrachter in die Vogelperspektive der Wissenschaft, die die Dinge von oben wahrnimmt und taxiert.
Auf eine glänzende, an der Wand hängende Zinkplatte hat Araz eine Strichätzung des "Aegypius Monachus" genannten Mönchsgeiers aufgebracht. Das Bild wie aus einem Naturkundebuch wirft die Frage auf, warum Tiere und Pflanzen überhaupt mit lateinischen Namen belegt werden. Allgemeiner gesprochen: Wer hat die Macht, etwas zu bezeichnen und dadurch zu definieren?
In "Satzzeichen (Sachsen)" setzt Aykan Safoğlu dieser Macht sein ganz eigenes System entgegen. In den 25 wunderbar filigranen, in pinker Glanzfarbe ausgeführten Frottagen des barocken Palmenmotivs der Leipziger Nikolaikirche und der Nikolaisäule spürt er den historischen Schichten dieses für die friedliche deutsche Revolution 1989/90 zentralen Gebäudes nach. Entwickelt damit aber zugleich eine Art alternatives Alphabet, eine alternative Semiotik. Lassen sich mit einer Ausstellung die "dunklen Geister (autoritärer Regime, orientalistische Blicke von Staaten, aber auch von Archiven) aus ihren verstaubten Bibliotheken verjagen?"
Als Ulu die Leitidee ihrer Ausstellung formulierte, konnte sie nicht ahnen, welche Aktualität diese Frage in einer Welt bekommen würde, die plötzlich nur noch von verbrecherischen Kräften und dunklen Geistern beherrscht zu sein scheint. Viele der Arbeiten der kleinen, beziehungsreich kombinierten Ausstellung lesen sich eher als Beispiele kreativen Widerstands gegen eine gewaltsam oktroyierte Ordnung denn als kritische Anti-Epistemologie.
İz Öztat drückt in ihrer Installation "After" aus roten Dreiecken und schwarzen Quadraten die Erinnerung an die zahlreichen tabuisierten historischen Gewalttaten in ihrer Heimat in abstrakten Symbolen aus. Das Wörtchen "Felaket (Catastrophe)" der von ihr möglicherweise erfundenen Figur Zişan entkam dem osmanischen Völkermord an der armenischen Bevölkerung. Das Werk thematisiert die Last des Verlustes in Gegenden, wo das Trauern untersagt ist.
Pflanzen im Gefängnis von Teheran
Auf mehreren Selbstporträts hat sich Chupan Atashi zwischen 2008 und 2010 in Teheran, der Zeit der "Grünen Revolution", an verschiedenen Stellen der iranischen Hauptstadt vor protestierenden Menschen mit der Lochkamera aufgenommen. Die Fotoserie führte zur Inhaftierung. Während den Bewegungszeiten im berüchtigten Evin-Gefängnis durfte Atashi, heute in Amsterdam und Washington zu Hause, fotografieren. Erlaubt waren aber nur unverdächtige Motive, keine Selbstporträts. Atashi wählte Blumen, die im und um das Gefängnis wuchsen.
Mag sein, dass ihre Bilder alltäglicher Pflanzen auf unkultivierten Feldern "für alle stehen, die nicht visuell repräsentiert sind", wie es Kuratorin Ulu ausdrückt. Sie geben neben dem visuellen Archiv einer peripheren Flora aber auch ein beredtes Bild für eine Tugend ab, ohne die auch in Freiheit Lebende in historisch umbrechenden Zeiten nur noch schwer auskommen: den zähen Überlebenswillen unter ungünstigsten Bedingungen, der am Ende sogar so etwas wie Schönheit gebiert.