Yayoi Kusama ist gerade überall auf einmal. In Paris beugt sich die japanische Küsterin als riesige aufgeblasene Hulk-Figur über die Louis Vuitton-Filiale in der Avenue des Champs-Élysées. Sie scheint einen der letzten bunten Punkte auf der Fassade anzubringen, die schon mit unzähligen roten, blauen, gelben, grünen und weißen Tupfen gesprenkelt ist. Am Piccadilly Circus in London lehnt sie sich aus einer überdimensionalen Leinwand heraus, einen schwarz-gelb gepunkteten Kürbishelm auf der ikonischen Bobfrisur. Am Rodeo-Drive in Los Angeles verblüfft eine übergroße Version der Künstlerin im Louis Vuitton-Schaufenster. Chinas und Koreas Werbetafeln sind überflutet mit ihrem Gesicht und ihren Punkten. Die Louis-Vuitton-Filiale in der Fifth Avenue in New York ummantelt ein wolkenkratzerhohes Muster. Außerdem steht dort ein hyperrealistischer Kusama-Roboter im Schaufenster, der mit starrem Blick akribisch kleine Kreise auf die Scheibe pinselt und Passanten verschreckt bis amüsiert. Dass Social Media von so viel PR-Gigantismus aufgewühlt ist, versteht sich von selbst.
Die Invasion der Punkte, eine Kusama-Manie, "Kusamanation". Selbst im eigenen Gesicht kann man die farbigen Kust-Kleckse dank eines Instagram-Filters nun tragen. Elf Jahre nach ihrer letzten Zusammenarbeit 2012 haben das französische Modehaus Louis Vuitton und die in Matsumoto geborene Künstlerin erneut kollaboriert, woraus eine 450-teilige Kollektion entstanden ist, die von Taschen, über Parfüm bis hin zu Turnschuhen alles umfasst. Auch ein Kusama-Vuitton-Pop-up im New Yorker Meatpacking District ist der neuen Künstler-Fusion gewidmet. Der Raum ist von der Decke bis zum Boden mit den berühmten "Unendlichkeitspunkten" übersät, die an den "Infinity Mirror Room" erinnern, eines von Kusamas bekanntesten Kunstwerke.
In der zur Kollektion gehörenden Kampagne posieren Supermodels unterschiedlicher Generationen, von Gisele Bündchen bis Bella Hadid, mit bunt-getupften Taschen, als Schwarz-Weiß-Fotografie unter roten und gelben Plastikkugeln, mit punktigen Anzügen und Stiefeletten. Im Alter von zehn Jahren hatte Yayoi Kusama ihre ersten Halluzinationen, die sie als "dichte Felder aus Punkten" beschrieb, seitdem ziehen sich die Polka-Dots wie eine Obsession durch ihre Kunst, bis sie heute, etwa 80 Jahre später, als ein buntes Netz feinste Lederware, goldene Ohrringe und Seidentücher bedecken. "Psychedelic Flowers", "Metal Dots", die etwa an ihren "Narzissengarten" in Venedig erinnern und "Infinity Dots" heißen die unterschiedlichen Kapitel der Kollektion, die bestimmte Werke Kusamas mit französischer Luxusmode verbinden.
Die heute 93-jährige Künstlerin hatte schon 2012 mit dem damaligen Louis Vuitton-Creative Director Marc Jacobs einen Hype um die zu Kunstwerken gepunkteten Designer-Taschen ausgelöst, die sich noch heute als wunderbare Geldanlage eignen. Doch ist diese andauernde Zusammenarbeit nur ein kleiner Ausschnitt, der ihre Faszination für Mode und ihr Talent, sie mit Kunst und Kultur zu verbinden, verdeutlicht. Oft trägt Kusama an ihre Kunstwerke und Ausstellungsräume angepasste Outfits, die sie zu einem Teil des Werkes werden und so mit ihm verschmelzen lassen – etwa mit textilen Phallus-Symbolen umnähte Kleider und Schuhe. Halb Mode, halb weiche Skulptur: So setzt sie ihren Wunsch nach dem eigenen Verschwinden um, geht unter im Raum. Schon seit dem Beginn ihres Schaffens bezieht Kusama Kleidung in ihr künstlerisches Repertoire mit ein.
Als die Künstlerin 1958 von Japan nach New York zog, wo sie als Frau in der Überzahl von männlichen Künstlern einen Platz finden und im besten Falle herausstechen musste, begann sie, den Kimono als persönliches Erkennungszeichens einzusetzen. In den späten 60er-Jahren gründete sie die Yayoi Kusama Fashion Company und lud zu berühmt-berüchtigten Modenschauen ein. In einer Pressemitteilung wurde versprochen: "Sehen Sie meine 'Peekaboo'-, 'See-Through'- und 'Open'-Hosen im Stoff und in natura. Überall sind Löcher - Löcher, die lebensspendende Energie ausstrahlen - Teil meines Heiligen Krieges gegen das Establishment." Ihre Schauen arteten häufig in Festivals mit viel Körperkontakt aus. Und trotz der Leitmotive "Protest" und "Nacktheit" wurden die Kollektionen in hunderten von kommerziellen Boutiquen in den USA angeboten, etwa auf der Sixth Avenue in New York.
Obwohl Kusama hauptsächlich als Künstlerin arbeitet, kann sie in gewisser Weise in die Riege japanischer Designer eingeordnet werden, die ab den 70er-Jahren die europäische Mode hinterfragten und ihr düstere, dekonstruierte, den Körper verformende Entwürfe entgegen setzten – allen voran Rei Kawakubo, Yohji Yamamoto und Issey Miyake. Anfang der 2000er wählte der im letzten Jahr verstorbene Designer Miyake Kusama aus, um bei einer Mode-Performance in der französischen Botschaft in Japan teilzunehmen, bei der sie ein Outfit mit fluoreszierenden Punkten verzierte. Kusama beschrieb dem "Guardian" damals ihre Arbeit im Bereich der Mode als das "Kreieren von Kostümen zum Tragen von Gedanken", da sie in jede Naht eines von ihr hergestellten Kleidungsstücks ein Statement einarbeite.
Die Motivation zu einer zweiten Zusammenarbeit mit Kusama erklärt Delphine Arnault, Ex-Executive Vice President von Louis Vuitton, und ab Februar CEO und Vorsitzende von Dior, so: "Einer der Aspekte ihrer Arbeit ist die Fröhlichkeit, und wir dachten, dass es nach der Pandemie sehr erfrischend wäre, wenn sich die Welten von Vuitton und Kusama wieder begegnen würden".
Warum die beiden Größen weiterhin so gut miteinander harmonieren würden, fasste Arnault mit "Sie ist besessen von dem Punkt. Und wir sind besessen vom Monogramm,“ zusammen. Womit das unverkennbare beige-braune LV-Logo-Muster gemeint ist.
Doch während man sich an diesem nach kurzer Zeit sattgesehen hat und es eine gewisse Elitisierung repräsentiert, ist der Punkt zeitlos, für alle greifbar, inklusiv. Er ist in Anzahl, Farbe, Anordnung und Material in unendlicher Weise kombinierbar und erlangte aus Yayoi Kusamas Pinsel Kultstatus, die vermutlich jede mögliche Komposition des kleinen Runds erforscht hat.
Ist das alles im Sinne der Künstlerin?
Die PR-Wucht, mit der Louis Vuitton bei der neuerlichen Zusammenarbeit mit der Künstlerin vorgeht, ist bemerkenswert. So gigantoman mutet die globale Kusama-Präsenz an, dass sich einige Stimmen aus der Kunstwelt schon gefragt haben, ob das eigentlich im Sinne der Künstlerin sein kann, die seit Jahrzehnten freiwillig in einer psychiatrischen Einrichtung lebt. Ist es die Perversion der Aufmerksamkeitsökonomie, dass man eine Frau, die sich seit langem bewusst der Öffentlichkeit entzieht, einfach als Roboter in ein Schaufenster packt?
Man könnte zumindest die Frage stellen, ob der Konzern LVMH die Kommerzialisierung eines Lebenswerks hier ins Absurde treibt. Andererseits hat Kusama ihre Projekte immer sehr dezidiert kontrolliert und sich selbst schon längst als Marke und Kunstfigur etabliert. Das Roboterhafte ist in ihrer Verpunktung der Welt bereits eingeschrieben, und sie gehört zu den wenigen Künstlerinnen, denen man ihren Hang zum Merchandise in der Museumswelt nicht übel nimmt.
In ihrer Autobiografie "Infinity Net" schrieb Kusama: "Mein Wunsch war es, die Unendlichkeit des grenzenlosen Universums von meiner eigenen Position aus mit Punkten vorherzusagen und zu messen - eine Ansammlung von Partikeln, die die negativen Räume im Netz bilden. Wie tief war das Geheimnis? Gab es jenseits unseres Universums unendliche Weiten? Bei der Erforschung dieser Fragen wollte ich den einzelnen Punkt, der mein eigenes Leben war, untersuchen.“ Durch diese Bedeutung, die sie dem kreisförmigen Partikel zuschreibt, schafft sie es mühelos, ihn von Kunst zu Mode zu überführen, ohne an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Der Punkt trägt die Tasche, nicht andersherum.
Über die neue Kusama-Kampagne mit Yayoi Kusama spricht Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr auch im Radio bei Detektor FM. Zum Anhören bitte Inhalte aktivieren: