Verschmitzte Augen in faltigen Gesichtern. In Turnkleidung und Slippern stehen sie wie eine Jugendmannschaft am Beckenrand, offensichtlich bereit, hineinzuspringen. Doch ihre Körper verraten gelebte Geschichte. Die Damen trainieren in der Gymnastikgruppe eines Altenheims. Joachim Giesel hat sie dort in den 1970er-Jahren für seine Serie "Der Mensch in der Gruppe" fotografiert. Sie zeigt die Protagonistinnen und Protagonisten in ihrem sozialen Gefüge und ist eine künstlerische Antwort auf August Sanders "Menschen des 20. Jahrhunderts".
Mit seinen Bildern ist Joachim Giesel Chronist einer historischen Epoche, und die Menschenbilder sind ihre Träger", sagt Martin Schieder von der Universität Leipzig. Gemeinsam mit Rickie Lynne Giesel hat er die Ausstellung "Menschenbilder – Zeitgeschichte" im Mädler Art Forum kuratiert, die noch bis zum 1. Februar 2025 läuft. Es ist die erste umfassende Schau, die Werke aus 50 Jahren zeigt und Pressebilder, Werbefotos und private Bildreihen umfasst.
Giesel, geboren 1940 in Breslau, fotografierte ab den 1960er-Jahren zunächst für die "Hannoversche Presse". Allein deswegen war er immer mitten im aktuellen Geschehen und konnte zentrale Ereignisse der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte dokumentieren. So war er 1967 dabei, als der Leichnam von Benno Ohnesorg von West-Berlin nach Hannover überführt wurde. Den Konvoi begleiteten damals Tausende Menschen aus BRD und DDR.
Zufall oder perfektes Timing?
Giesel gelang damals ein Bild, das den Leichenwagen am Grenzübergang Helmstedt zugleich in beiden Staaten zeigte: mit den Vorderrädern schon in der BRD, mit den Hinterrädern in der DDR. Zufall oder perfektes Timing? Es ist ein Bild, das die Teilung, innere Unruhe und zugleich emotional und politisch angespannte Lage beider deutscher Staaten widerspiegelt: Stillstand und Dynamik in einem, die Wachhabenden, die geschäftig umhergehen und die Insassen in ihren wartenden Autos kontrollieren. Die Umrisse ihrer Körper verschwimmen, Bewegungen, die auf einer zweidimensionalen Oberfläche festgehalten wurden. Es erinnert an die frühen Gemälde von Gerhard Richter.
Joachim Giesel ging es immer um die Menschen vor seiner Kamera, sie wollte er zeigen. Eine Werkgruppe fällt besonders heraus: "Grenzland – Niemandsland". Diese zeigt die schmerzliche Abwesenheit von Menschen in einer Landschaft, in denen die Teilung des Landes noch heute zu sehen ist, in Form des sogenannten Grünen Bandes.
Mit dem Mauerbau in Berlin 1961 wurde die Trennung beider Staaten endgültig besiegelt. Infolgedessen fuhr Joachim Giesel zwischen 1965 und 1998 immer wieder an die innerdeutsche Grenze, zuletzt 2012 gemeinsam mit einem Kamerateam des NDR.
Brutale Realität statt Dorfidylle
Er fand Bahngleise, die ins Nichts führten, und Dörfer, in denen keiner mehr lebte. Einzig die Gänse waren geblieben. Sie hätten fliegen können, wohin der Wind sie auch trägt – doch sie blieben. Die Idylle dieser Dorflandschaften wich einer brutalen Realität. Eine genaue Zahl lässt sich bis heute nicht festlegen, doch Untersuchungen des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin haben 2019 ergeben: mehr als 800 Menschen starben im Umfeld der innerdeutschen Grenze.
Es ist eine grausame Widersprüchlichkeit, die diesen Orten innewohnt, besonders deutlich wird das in Form von Teilungs-Tourismus, den man im niedersächsischen Offleben in der Gaststätte "Grenzblick" erleben konnte. "Da hatte man bei Schnitzel und Bier den Blick auf die Grenze", erzählt Rickie Giesel. Aber was konnte man da sehen? Die Anlagen und Wachtürme und dahinter eine ganze Weile nichts, denn es folgten fünf Kilometer Sperrgebiet, das kein Mensch betreten durfte.
"Auch drüben ist Deutschland", heißt es auf einem anderen Bild, das Giesel in den 1980er-Jahren einfing. Keine Spuren sind in dem frisch gefallenen Schnee zu sehen, kein Auto, das auf dem Weg zum Schlagbaum Reifenspuren hinterlassen hätte. Im Hintergrund sieht man einen Wachturm auf der DDR-Seite. Er bohrt sich ins Zentrum des Bildes, ist das beobachtende Auge, das kein Durchkommen zulässt.
Ein persönlicher Blick auf geteilte Geschichte
Es sind Momente, die Giesel in Farbe festhält, ein weiterer Kontrast zu den meist in Schwarz-Weiß gehaltenen Pressefotografien. Aber auch hier ist er nur Beobachter, der nicht in das Geschehen vor der Kamera eingreift. Dennoch, es ist ein sehr persönlicher und insbesondere westdeutscher Blick auf geteilte Geschichte, der in der Ausstellung im Mädler Forum zu sehen ist.
Mit dem Versuch, ostdeutsche Fotografie-Pendants zu finden, wollen die Macher der Leipziger Ausstellung das Werk Giesels kontextualisieren. Viele Hinweise auf die politische Dimension lassen sich aber auch schon ohne dieses Hintergrundwissen erkennen, so etwa in einer Fotografie, die Bernd Bransch beim WM-Spiel 1974 gegen Brasilien zeigt. Die Geschichte dahinter: Zum ersten Mal hatte sich die Mannschaft der DDR für die Fußballweltmeisterschaft qualifiziert und gewann das Spiel gegen den Gastgeber BRD mit 1:0. Der Triumph war nicht von langer Dauer, denn im Folgespiel trat die DDR-Mannschaft gegen Titelverteidiger Brasilien an und schied aus dem Turnier aus.
Die umfassende Werkschau ist zugleich auch eine Begegnung verschiedener Generationen, denn konzipiert und umgesetzt wurde sie von Studierenden der Leipziger Universität. Ihre Auswahl beruht auf sehr unterschiedlichen Kriterien: Interesse, Ästhetik, historischer oder politischer Relevanz und Popkultur. Entstanden ist eine Ausstellung, die an einen Collage-artigen Rundgang durch westdeutsche Zeitgeschichte erinnert, an dessen Zeiträndern oder Oberfläche immer mal wieder die DDR auftaucht. Besonders deutlich wird das in der Serie "Grenzland – Niemandsland". Zugleich ist es auch ein Blick ins Werk eines Pressefotografen, der mit einem hohen ästhetischen Anspruch und handwerklichen Können gearbeitet hat.