Die Couture-Schauen in Paris warten mit außergewöhnlichen, abstrakten und wertvollen Entwürfen auf, die in stundenlanger Handarbeit in den Ateliers ausgewählter Maisons hergestellt werden. Chanel, Balenciaga, Schiaparelli – sie gehören zu den altehrwürdigen Häusern. Ihre hohe Schneiderkunst darf unter dem geschützten Begriff der Haute Couture präsentiert werden. Die Kleider gehören dem höchsten Preissegment an, treue Stammkunden kaufen die kunstvollen Sammlerstücke. Doch auch weniger traditionelle Designer zeigen während der prestigeträchtigen Woche ihre Kollektionen. Eine von ihnen ist Iris van Herpen, geboren 1984 in den Niederlanden, die ihre Karriere vor 16 Jahren begann und seitdem für ihre fast außerirdischen Designs bekannt ist. Diese stellen das Konzept der Haute Couture und auch die Abgrenzung von Mode und Kunst in Frage.
Architektur ist in den von ihr entworfenen Stücken genauso präsent wie selbst entwickelte Materialien, die normalerweise in Kleidung kaum eingesetzt werden. Strukturelle Elemente verbindet sie so, dass sie wie flüssige Ströme um den Körper herumwabern. Konstruktion und Bewegung begegnen in van Herpens Mode den traditionellen Handwerkskünsten und innovativen Technologien und Methoden wie Lasercut und 3D-Drucken.
So wirken die tragbaren Kunstwerke wie futuristische Uniformen. Kleider, die ihrer Zeit voraus sind. "Wenn man ein Kleid trägt, das so viel Liebe, Aufmerksamkeit und Leidenschaft in seiner Herstellung erfahren hat, erhöht es einen", erklärt van Herpen in einem Interview mit der Fédération de la Haute Couture et de la Mode. Auch gehört sie zu den Designerinnen, die sich intensiv mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzen. Sie nutzt sie als eine Art Werkzeug, das ihr in ihren Ausarbeitungen zur Seite steht, jedoch lässt sie sie ihren eigenen kreativen Schaffensprozess nicht übernehmen.
Natur, Wissenschaft und Kunst – diese drei Disziplinen können laut van Herpen zusammen die Welt verändern, in eine positivere Zukunft. Bis zum April diesen Jahres fand ihre Ausstellung "Sculpting the Senses" im Musée des Arts décoratifs in Paris statt, in der um die 100 Kleider und 40 Accessoires ausgestellt wurden. In einem Dialog mit Kunstwerken und Elementen der Forschung zeigten Kapitel wie "Das menschliche Skelett", "Ozean" oder "Das Netzwerk der Pilze" die Kleider in einem der Mode fernen Kontext. Es folgten Einblicke in van Herpens Inspirationen und ihr Design-Studio. In einem gesonderten Raum wurde untersucht, wie Chaos und Angst ein Design-Element der Modeschöpferin sein können.
Manche Menschen ordnen van Herpens Design eher als Skulpturen ein denn als Kleidung. "Es war mir sehr wichtig, weiter zu gehen als nur eine Modeausstellung, denn ich sehe Mode als eine Kunstform an und habe mich selbst immer als beides, eine Modedesignerin und eine Künstlerin verstanden. Es fühlte sich wichtig an, diese Vision in der Ausstellung verständlich zu machen." Biologen nennt sie als wichtige Inspirationsquelle, genau wie historische Referenzen. Der Kosmos, ein Insekt, luzide Träume und Philosophie können ihr als Inspiration dienen, die sie erforschen möchte. Manche nennen van Herpen die "Wissenschaftlerin der Haute Couture", sie jedoch sieht sich eher als eine Designerin, die mit vielen weiteren Disziplinen, Kulturen und Subjekten interagiert und daraus Neues entstehen lässt.
Eines ihrer herausstechenden Werke ist das Wasser-Kleid aus ihrer Frühling-Sommer-Kollektion von 2011. Das "Splash Dress" besteht aus einem ledernen Minikleid mit einem präsenten Reißverschluss vom Hals bis zur Hüfte, um das vermeintliches Wasser in großen Tropfen kreisförmig angeordnet ist. Als hätte sich das Model wie ein Hund geschüttelt und das Nass würde in Zeitlupe vom Körper fliegen. Eine spezielle Art von Acryl hatte van Herpen für diesen täuschend echten Effekt benutzt. Das Kleid ist Teil der "Crystallization"-Kollektion, in der sie auch ihr erstes 3D-gedrucktes Kleid präsentierte. Im Jahr darauf war van Herpen eingeladen worden, an den offiziellen Haute-Couture-Schauen in Paris teilzunehmen.
Kreuzung von Mode und Kunst
Diese Kleider scheinen lebendig zu sein. Die gefächerten, nach außen wachsenden Materialien, oft an abstrakte Tier-Panzer erinnernd, feingewebte Kokons oder eine Art Alien-Couture, vibrieren förmlich, wenn sie den Laufsteg einnehmen. Van Herpen ist Synästhetikerin und nimmt etwa bei dem Klang von Musik auch Texturen und Muster wahr. Dies ist ihrer Mode anzusehen. Als würde das Kleidungsstück nicht nur den Sehsinn ansprechen; man will es anfassen, fühlen, kann es fast hören. Alle Sinne werden stimuliert. Auch ihre Vergangenheit als Tänzerin begegnet einem in der Mode. Die Designs ahmen eine gewisse Körperspannung nach, sind dynamisch, kinetisch, fast flirren sie vor Energie.
Auf ihrem Instagram-Profil beschreibt die Designerin ihre Arbeit als "die Kunst der Haute Couture". Und wie wörtlich sie dies meint, zeigte sie bei ihrer letzten Show im Juli. "Hybrid" hieß ihre 45-minütige Ausstellung, die sie während der Pariser Haute-Couture-Woche präsentierte. Mode und Kunst kreuzten sich nicht so, wie es viele andere Couturiers verstehen und ihre Kollektionen von großen Meistern inspirieren oder das Set Design von einer Künstlerin gestalten lassen.
Van Herpen entwickelte erstmals Werke, die nicht an die Formen des menschlichen Körpers gebunden sind. "Die Erforschung eines neuen Bereichs innerhalb meines eigenen kreativen Prozesses", wie sie sagte. Neun Werke gehörten in dieses neue Konzept, fünf davon dem Haute-Couture-Kontext zuzuschreiben: Aus großen weißen Leinwand-Flächen an den Wänden wuchsen Models in Organza-Roben heraus, nur durch ihre Highheels befestigt, die in den Hintergrund geschraubt waren. Als tableau vivant agierten sie wie lebendige Malereien. Performerinnen nannte van Herpen sie, Luftskulpturen, die madonnengleich auf das Publikum herabschauten. Eine war in einen perlenbestickten Entwurf gekleidet, eine schien ein gewebtes Skelett zu tragen, das Kleid einer dritten umspielte ihren Körper wie hellblaue Seiden-Pirouetten.
Die Bedeutung der Entschleunigung
In den vier weiteren Werken widmete sich van Herpen allein der künstlerischen Vorgehensweise. "Auch wenn wir die eine Praxis 'Haute Couture' und die andere 'Kunst' nennen, ist es für mich ein einziges Universum", sagte sie. Die großformatigen Entwürfe waren als zwei Paare konzipiert und zeigten unterschiedliche innovative Techniken auf Tüllflächen, die über Stahlrohre gespannt waren. Grobe Ölfarbe hatte die Künstlerin auf sie aufgetragen und mit von Hand plissierter Seide gemischt. Tüll, ein beliebtes Material, das seinen Ursprung im klassischen Ballettkostüm hat, dient auch als Grundlage für die meisten Couture-Looks. "Ich konnte den interdisziplinären Ansatz in meinem gesamten Werk erkennen, aber mir fehlte etwas, das schon immer ein Teil von mir war: meine Liebe zur Bildhauerei und zur Malerei", erklärte sie in der Beschreibung der "Hybrid Show".
Durch die gleichzeitige Präsentation der Couture-Looks und der Skulpturen als Kunstwerke entfernte sich van Herpen von der üblichen 15-Minuten-Laufsteg-Show. Während der gemeinen Form der Modenschau können Details und Techniken oft kaum wahrgenommen werden. Van Herpens Idee war es also, das Publikum zu ermuntern, mehr Zeit damit zu verbringen, die Kunstfertigkeit und das Handwerk zu verstehen. "Die Herstellung dieser Looks hat viele Monate gedauert. Die Bedeutung der Entschleunigung zeigt sich also nicht nur in der Arbeit selbst, sondern auch darin, wie die Menschen sie wahrnehmen", erklärte sie.
Iris van Herpens tragbare Kunst - oder ihre kunstvolle Mode - bewegt sich in einem losgelösten Universum und ist mit der Arbeit keines anderen Couturiers vergleichbar. Als bisher jüngste Designerin wurde sie in die Fédération de la Haute Couture et de la Mode aufgenommen. Nun befreite sie sich von den Rahmenbedingungen der Fashionwelt und der Form des Körpers und hebt ihr Schaffen in eine neue Dimension, die sie selbst definiert.