War es ihr Alter, ihre fast gesichtsgroße Brille oder ihr loses Mundwerk? Iris Apfel wurde jedenfalls mit stolzen 84 Jahren als spät gezündete Mode-Influencerin der Herzen auserkoren. Oder vielleicht war es der Unglaube darüber, dass ihre exorbitante Modesammlung über Jahrzehnte hinweg unentdeckt von der Öffentlichkeit wuchs? Vermutlich war letztlich das ausschlaggebend, was Iris Apfel verinnerlicht hatte und was heute, dank Social-Media-Vergleichen und endlosen Macro-und Micro-Trends, selten existiert: Individualität. Originalität. Das Verlassen auf den eigenen Instinkt, das autonome Verlangen, bestimmte Kleider zu tragen und andere zu meiden. Nach den Accessoires zu suchen, die tatsächlich, das unterstreichen, was man auszudrücken sucht. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was Magazine, soziale Medien, oder, Gott behüte, die Gesellschaft erwartet und vorgibt.
Jetzt ist Iris Apfel am 1. März im Alter von 102 Jahren gestorben und hinterlässt das vermutlich bestsortierte Accessoire-und Mode-Archiv der Jetztzeit. Fast ironisch fühlt es sich an, dass ihr Tod auf ihrem eigenen, von drei Millionen Followern abonnierten Instagram-Account bekannt gegeben wurde – als wäre die Nachricht eine Botschaft von ihr selbst - und der einzig logische Schritt für eine Influencerin.
"Es gibt so viel Gleichförmigkeit"
Zu einer solchen wurde sie letztlich dadurch, dass ihr Stil sich 80 Jahre lang entwickeln konnte, ohne eine ständige Bespielung des Bildschirms. "Ich mag Individualität. Es gibt so viel Gleichförmigkeit. Ich habe keine Regeln, weil ich sie nur brechen würde, also ist es Zeitverschwendung", sagte Apfel einst. All die Klone, die Großstadt-Straßen und Online-Galerien fest im Griff haben, verstand sie nicht. Geformt durch Reisen, Kunst und Kultur gehörte sie zu den Stil-Ikonen, die tatsächlich dem Begriff gewachsen sind. Sie alleine suchte aus, was und wie sie etwas tragen wollte, inspirierte und ermutigte dadurch andere zum Ausprobieren von Neuem.
Total-Looks einer Marke oder Stylisten, die heute meist bestimmen, wer zu einem Modeidol werden kann und wer nicht, brauchte sie nicht. Bekannt wurde Iris Apfel mit einer riesigen, schwarzen Eulen-Brille auf der Nase, knallig pinken oder roten Lippen, einem silberweißen Kurzhaarschnitt und behängt mit diversen Obersized-Ketten. Armreife stapelten sich an ihren zarten Armen, unzählige Muster und Materialen fanden sich in ihren Outfits wieder, die aus Federboas, Pelzmänteln, ausladenden Schals, Lederhosen, Fransenshirts, Tüll und Brokat-Anzügen zusammen gesetzt waren.
Vintage-Funde und Haute-Couture, Hippie und High Society verband Apfel in ihren Looks. Unnachahmbar schon allein deshalb, weil die meisten ihrer wertvollen Teile Einzelstücke vom Flohmarkt waren oder aus fernen Ländern stammten. Oder beides. Schon in den 1940er-Jahren trug sie Jeans, was damals als unschicklich galt. Früh setzte sie sich über Regeln aller Art hinweg, und anders wäre ihr Stil-Experiment vielleicht gar nicht möglich gewesen. Denn Mut muss man haben, um sich so auffällig und ungewöhnlich zu kleiden. Dadurch, dass sie ihren eigenen, maximalistisch-extrovertierten Look erfand, war dieser zeitlos. Aus der Mode konnte Apfel so nie kommen.
Stoffe für das Weiße Haus
1921 wurde sie als Iris Barrel in New York geboren. Als Tochter einer Boutique-Besitzerin und dem Leiter einer Glaserei kam sie früh in den Kontakt mit Design und Mode und entschied sich schließlich, Kunstgeschichte zu studieren. Sie arbeite als Copywriterin für "Women's Wear Daily", für Interior Designerin Elinor Johnson und den Illustrator Robert Goodman.
Einen wichtigen Teil ihres Lebens machte ihr Ehemann Carl Apfel aus, den sie im Jahr 1948 heiratete. In Albert Mayles Dokumentation "Iris" (2015) über Apfels Leben wird die besondere, liebevolle Verbindung der Eheleute durch stetige Neckereien spürbar. "Old World Weavers" nannten sie die Textilfirma, die das Paar zwei Jahre nach seiner Hochzeit gründeten und die sich auf Replikas historischer Stoffe spezialisierte.
Unter anderem statteten sie das Weiße Haus über neun Präsidenten-Amtszeiten mit Textilien aus und leiteten Restaurations-Projekte für Estée Lauder und Greta Garbo. Sie durchstöberten Museen und Basare auf der ganzen Welt nach Stoffen. In ihrer Wohnung in der Park Avenue in Manhattan ergänzte Iris Apfel dazu regelmäßig ihre riesige Garderobe durch ausgewählte Funde.
"Eine Razzia durch meinen Kleiderschrank"
Durch einen Zufall wurden diese und ihre Besitzerin über Nacht berühmt. Ein Freund, der Mode-Kurator Harold Koda, stellte im Jahr 2005 rund 300 Accessoires und 82 Looks aus Iris Apfels Kleiderschrank im Metropolitan Museum in New York aus, nachdem dort eine Ausstellung geplatzt war. "Rara Avis: Selections From the Iris Apfel Collection", war die erste Ausstellung des Hauses, die sich der Kleidung einer Einzelperson widmete. "Das ist keine Sammlung", sagte Iris Apfel. "Es ist eine Razzia durch meinen Kleiderschrank. Ich dachte immer, um in der Met auszustellen, muss man tot sein." Das Apfel-Archiv wurde zu einem vollen Erfolg, den sich selbst Modegrößen wie Karl Lagerfeld, Carla Fendi und Giorgio Armani nicht entgehen ließen. Schulklassen und Modeliebhaber, sie alle konnte sich an der absurd-schönen Ansammlung nicht sattsehen.
Die Ausstellung wurde zu einem Coffee-Table-Buch, Apfel fand sich als Designerin, Testimonial, Lektorin und nicht zuletzt als älteste Influencerin der Welt wieder, die neben einer eigenen H&M-Kollektion auch eine Barbie designt bekam. "Es ist nie zu spät", auf wenige Personen trifft dieser Kalenderspruch so gut zu wie auf Apfel. Mit 97 Jahren unterzeichnete sie einen Modelvertrag bei IMG, ein Jahr, nachdem sie ihre Biografie "AccidentalIcon" geschrieben hatte.
Neben ihrer Garderobe glich auch Apfels Haus einem gigantischen Fundus aus Designklassikern und in der Ferne gefundenen Schätzen, die alle fein säuberlich Platz in dem Park-Avenue-Apartment fanden. Ihr Erbe besteht jedoch nicht aus den abertausenden Objekten, die sich in ihrem Besitz befanden. Was sie weitergibt, ist die Freude am Tragen und Kombinieren von Kleidung, das Experimentieren, losgelöst von jedem Trend und jeder Meinung. Oder, wie es Iris Apfel 2011 der "New York Times sagte: "Wenn man sich nicht wie alle anderen kleidet, muss man auch nicht wie alle anderen denken."