Gerhard Richters freigelegtes Wandbild in Dresden

Spuren des Aufbruchs eines jungen Künstlers

Gerhard Richters künstlerischer Neubeginn im Westen ließ sein Frühwerk in der DDR lange im Schatten stehen. Ein nun teilweise freigelegtes Wandbild in Dresden wirft Licht auf diese lange unbeachtete Phase seines Schaffens

Gerhard Richters Œuvre umfasst mehr als 4.000 Gemälde und Objekte. In einem bis heute sechsbändigen "Catalogue raisonné" sind auf insgesamt 3.536 Seiten 4.118 einzelne Arbeiten unter 957 "Werknummern" verzeichnet. An diesem umfangreichen Opus arbeitet Dietmar Elger, der Leiter des 2006 begründeten Dresdner Gerhard-Richter-Archivs, bereits seit 2002, also seit fast einem Vierteljahrhundert.

Und doch ist das Verzeichnis nicht vollständig. Es schweigt sich über das Frühwerk aus – das eigentliche Frühwerk des Studenten und angehenden Malers in Dresden. Aber da gab es etwas. Ein kleiner Einblick ist seit kurzem möglich.

Gerhard Richter hat ein für allemal beschlossen, sein künstlerisches Werk erst nach seiner "Republikflucht", der Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik im Jahr 1961, beginnen zu lassen. In Düsseldorf studierte er bekanntlich Malerei an der dortigen Akademie. Sein erstes von ihm anerkanntes Werk ist das Ölgemälde "Tisch" mit der Werknummer 1, datiert auf das Jahr 1962. Damals begann Richter auch, im Westen auszustellen.

Weiß übermalt – und vergessen

Nur: Er hatte bereits ein vollständiges Malereistudium hinter sich, in seiner Vaterstadt Dresden. 1956 schloss er es mit dem Diplom und der Note "Sehr gut" ab. Einer beruflichen Existenz als Künstler – reglementiert, aber eben auch alimentiert, wie das in der DDR der Fall war – stand nichts im Wege. Richter erhielt erste und durchaus ansehnliche Aufträge.

Ein solcher Auftrag war die Ausmalung eines Treppenhauses im Deutschen Hygiene Museum in Dresden. Dem in der Endphase der Weimarer Republik errichteten Museum war in der DDR eine bedeutende Aufgabe zugedacht; es sollte erzieherisch für die Volksgesundheit wirken. Dem Selbstverständnis der DDR nach bot allein der Sozialismus eine Zukunft in Glück und Gesundheit, und dies im Rahmen der Familie. Das war das Thema, das Richter darstellen sollte, er erhielt "Lebensfreude" 1955 als Diplomaufgabe. "Familie als eine Lebensfreude der DDR", wie es jetzt in der zur Freilegung von der Wüstenrot-Stiftung vorgelegten Publikation heißt.

1956 malte er das nicht weniger als 63 Quadratmeter bedeckende Wandbild; er war dafür in der Klasse für Wandbildmalerei seines verehrten Professors Heinz Lohmar ausgebildet worden. Das Ergebnis stellte die Auftraggeber ebenso zufrieden wie die über alle öffentlichen Äußerungen wachende SED. Auch als Richter unerwartet den Staat verließ, blieb das Wandbild unangetastet. Erst 1979, als ein Stadtjubiläum mit entsprechenden Feierlichkeiten anstand, wurde es weiß übermalt – und vergessen. Jahre nach der Wende stieß man seitens des Museums darauf, dass das Wandbild unter seiner Übermalung erhalten sein könnte. Richter jedoch lehnte die Freilegung ab.

Spätere Karriere beruht auf dem Dresdner Fundament

Es bedurfte wohl einiger Überzeugungsarbeit, um ihm das Einverständnis zur Teil-Freilegung abzuringen. Richter, inzwischen 93 Jahre alt, muss wahrlich nicht mehr befürchten, dass sein gewaltiges Œuvre durch vermeintliche Jugendsünden befleckt werden könnte. In der Tat – und das ist erstaunlich – weist kein Weg vom frühen Wandbild zu den Anfangsjahren in Düsseldorf, als Richter das Malen nach Schwarz-Weiß-Fotografien vorzugsweise aus Illustrierten erprobte und zunehmend perfektionierte. Was hat denn Richter überhaupt aus seinem immerhin fünfjährigen Dresdner Studium mitgenommen? Mit Sicherheit die Kenntnis und Beherrschung von Material und Maltechniken. Das souveräne Springen zwischen gegenständlichen und abstrakten Malweisen, der Umgang mit fotografischen Vorlagen wie auch mit freier Hand, das Malen mit Pinsel oder Rakel, all das ruht auf dem Fundament der in Dresden erworbenen Kenntnisse.

Nur an das Sujet und die ganze Auffassung, wie sie im Dresdner Wandbild zum Ausdruck kommen, hat Richter nie mehr angeknüpft. Im Hygiene-Museum ist als Ausschnitt aus einem überraschend vielschichtigen und kunsthistorisch umfassend verankerten Gemälde eine Figurengruppe am Strand zu sehen, Frau im Badeanzug, Mann in Rückenansicht, Mutter und zwei Kinder im Vordergrund. Strand steht für Freizeit, Erholung, Gesundheit in Luft und Sonne; zehn Jahre nach dem Krieg, der Dresden als Trümmerwüste hinterlassen hatte, noch eher Versprechen als Wirklichkeit. Es ist die glückliche Zukunft, die Richter dargestellt hat, zum Greifen nah – wie den Betrachten sehr wohl bewusst war – nur unter Führung der SED. In deren Staat, den der Maler Hals über Kopf mit seiner kurz zuvor angetrauten Ehefrau verlassen hatte.

Als das Wandbild 1979 übermalt werden sollte – in immer noch demselben Staat, der Richter einst den Auftrag gegeben hatte –, wurde dem Werk bescheinigt, es sei ihm "keine künstlerische Bedeutung beizumessen" Das ist natürlich Unsinn. Ein (bewusstes) Fehlurteil, dem sich Richter indirekt angeschlossen hatte, als er die Freilegung verwarf. Die "baubezogene Kunst", zu der das sorgfältig in die Architektur des Museums eingefügte Wandbild gehört, spielte in der DDR eine große Rolle, und so war das Wandbild auch anerkannt worden.

Richters Wandbild ist kein stiller Protest

Stilistisch liegt Richters Werk auf der Linie des Sozialistischen Realismus, wie er insbesondere auf den regelmäßig in Dresden abgehaltenen Kunstausstellungen der DDR vorgeführt wurde. Dass man, mit einigem Scharfsinn, versteckte Hinweise auf berühmte Vorbilder der in der DDR verfemten Klassischen Moderne erkennen kann, steht dazu nicht im Widerspruch. Richters Wandbild ist kein stiller Protest. Es ist der Aufbruch eines jungen Künstlers aus dem Reglement eines eng angeleiteten Studiums in eine nach Möglichkeit selbstbestimmte Kunst.

Ebendies hat Richter, insbesondere nachdem er 1959 die zweite Kasseler Documenta mit ihrer Überfülle abstrakter Kunst besucht hatte – damals stand die Mauer noch nicht –, in der DDR für sich nicht erhoffen können. Er vollzog den radikalen Bruch. In Düsseldorf fing er von vorne an, mit ganzem Einsatz. Dass er derart neu begann, hat natürlich mit dem zu tun, was er hinter sich ließ. Es ist Teil seines künstlerischen Weges. In ein paar Jahren wird man das vollständige Wandbild freilegen. Um der historischen Wahrheit willen kann es gar nicht anders sein.