Mailand ist die italienische Modehauptstadt. Was an nostalgischem Kleinstadt-Charme fehlt, wird durch alle großen Modemarken aufgewogen, die hier ansässig sind und die Wirtschaft, die Looks und die Attitüde bestimmen. Letztere gerade während der Mailänder Modewoche. Models mit dem Make-up der Show, die sie gerade gelaufen sind, schlängeln sich durch wartende Fußgängermassen. Kastiges Security-Personal bewacht luxuriöse Hauseingänge, in deren Lofts die frischen Kollektionen warten.
Einige wenige dürfen die neuesten Kreationen der italienischen Modehäuser aus nächster Nähe bewundern, auf der Mission, ein vollumfassendes Bild von dem zu erhaschen, was im kommenden Winter getragen wird. Nicht nur die großen Namen – Prada, Armani, Gucci – laden ein, auch aufstrebende Designer, die versuchen, sich gegen die Maestros durchzusetzen und sich in der traditionellen Mailänder Mode zu etablieren. Gar nicht so leicht.
Tradition ist Loro Piana. Das 1924 gegründete Modeunternehmen, seit 2013 Teil der mächtigen LVMH-Familie, erlebte im vergangenen Jahr einen rapiden Aufstieg und trug zum Umsatzhoch des Mutterkonzerns bei. Bekannt für qualitativ höchstwertige Kaschmir-Mode, repräsentierte die Marke den im letzten Jahr durch die Fernsehserie "Succession" entstandenen Trend des "Quiet Luxury". Vor allem eine aus Kaschmir gefertigte Baseball-Kappe stand für die Understatement-Dekadenz.
Unternehmer-Erben als Style-Vorbilder
Es sei das Momentum der Marke, wird bei der Loro-Piana-Präsentation im Viertel San Marco erklärt, und die Kollektion dieser Saison umfasse weit mehr Looks als üblich. Durch Kaschmir verfeinertes Denim, Mäntel aus Baby-Kaschmir und in tausenden Stunden Handarbeit mit Perlen bestickte Abendgarderobe schmücken den Raum.
Styling-Vorbilder sind die Unternehmer-Erben Sergio und Pier Luigi Loro Piana selbst, die die Revers ihrer kostbaren Mäntel stets bloß durch eine schmückende Stecknadel-Brosche schlossen, um das weiche Material zu schonen. Ihr Stil wird in der Kollektion fortgeführt – "Reicher-Weißer-Mann-Chic" dominiert mutmaßlich unsere Herbst-Winter-Garderobe.
Auch Federico Cina besann sich für seine "Tortellino"-Taschen-Kollektion auf seine Herkunft. Aus der Emilia-Romagna stammend, zeigte seine Nonna ihm schon als Kind, wie man die traditionelle Pasta formt. Nun tat Cina das gleiche aus dem zartesten Leder und kreierte eine der Teigware nachempfundene Tasche, die ihr Debüt während der Herren-Shows im Januar feierte. Neue Farben und Formen der "Tortellino" zeigt Cina während der Modewoche im etwas außerhalb gelegenen Viertel Calvairate, in dem einige jüngere Designer ihre Kollektionen präsentieren.
Fein verarbeitet in Babyblau, Weinrot oder klassischem Schwarz hängt und liegt die Tasche in unterschiedlichen Formaten zwischen weiß bemalten Eiern, aus Ton gefertigten Tortellini und geweißten Löffeln. Perfekt das Komische mit dem Tragbaren vereinend, smart und gut überlegt entwarf Federico Cina ein Accessoire für den modischen Nudelliebhaber oder die -liebhaberin, die Qualität und gutes Design zu schätzen weiß. Auch seine Kleidungs-Kollektionen zeugen stets von einer gekonnten Balance zwischen italienischem Erbe und dem Abstrahieren. Wenige junge Modeschöpfer wirken so innovativ und relevant wie Cina.
Einige Straßen weiter wartet in einem winzigen Atelier eine weitere Fusion aus Backware und Mode. Der aufstrebende Designer Dennj stellt seine neue "Stamps"-Kollektion vor, während Brotlaibe gebacken und an die Gäste verteilt werden. Handwerk in all seinen Formen soll in der Kollaboration wie auch in der Mode hervorgehoben werden.
Der Designer selbst berichtet, wie schwierig es sei, an die gängigen Showräume zu gelangen. Selten werde den jüngeren Designern eine Chance gegeben, ihre Arbeit vor einem größeren Publikum vorzustellen, die PR-Agenturen hätten Angst vor Neuem, von dem man nicht wisse, wie es ankomme.
"Stamps", das sind laut Dennj kleine Stoff-Kreise aus Second-Hand-Material, die aneinander genäht zu Kleidungsstücken werden und sich an die Körper anpassen. Handtellergroße Denim-, Seiden- oder Baumwoll-Dots wurden so zu Jacken, Kleidern und Mänteln. Während gerade die verstellbaren Größen einiger Kleidungsstücke neben dem Aspekt des nachhaltigen Materials innovativ wirken, scheint die Verarbeitung der Stamps noch ein paar Versuchsschritte von einem perfekten Ergebnis entfernt. Das Konzept fein, das Resultat noch nicht an die Professionalität anknüpfend, die seine Konkurrenz vorweisen kann.
Besinnung auf die Essenz
Nach wenigen Minuten durch den prasselnden Regen erreicht man den Marni-Showroom, in dem an einer schlangenförmigen Kleiderstange die am Tag zuvor gezeigte Kollektion durch den hallenartigen Raum führt. Die Modenschau hatte in einer komplett mit weißem Papier ausgeklebten Höhle stattgefunden, wie ein von der Außenwelt abgeschotteter Designprozess in einem Atelier. Keine visuellen Referenzen oder Stimulation sollte die Kreationen Francesco Rissos, Marnis kreativer Leitung, beeinflussen.
In einem fast animalischen Akt wollte sich Risso auf die Essenz des Hauses besinnen, in Form, Farbe und Material. Abstrakte Silhouetten, die Arme einhüllende Mohair-Handschuhe, ausgestellte Kleider aus braunem Leder und Leoparden-Mäntel gehören zu dieser instinktiven Geburt. Das Muster einiger Stücke stellt die Schraffur der Modezeichnungen aus der Design-Phase nach. Die zum Ende hin gezeigten, wilderen Looks funktionierten wie Leinwände und wurden mit Acryllack in unterschiedlichen Schattierungen bemalt. Angepinselte, rundschultrige Mäntel, weite Minikleider und mit Farbe zu Stacheln geformte Fell-Jacken zeigen den tierischen Vibe, den Rossi verspürte.
Marni gehört zu einer der wenigen Brands, die sich dem Experiment widmen. Die meisten großen Modehäuser unterwerfen sich der schwierigen wirtschaftlichen Lage und setzen auf bewährte Klassiker. Prada findet wie meist einen attraktiven Mittelweg. Wer schon immer einmal in der ersten Reihe einer Show des Hauses sitzen wollte, kann das während des "Re-Sees" nachholen, denn die 58 Looks sind im Fondazione-Prada-Torre ausgestellt. Stilecht mit dem künstlichen Naturszenario, das während der Schau unter Panzerglas als Runway-Set diente.
Alles mit Schleife bei Prada
Für Signora Prada und Raf Simmons begann diese Saison alles mit einer Schleife, ein Element, dass sich dekorativ oder funktional in fast jedem Look der Kollektion wiederfindet. Oft sieht man zwei halbe Röcke übereinander gebunden, die Rückseite der Modelle nur vom Unterrock, die Vorderseite von einer Bügelfalten-Office-Version bedeckt.
Gestrickte Pullunder, mit glitzernden Schleifen-Broschen verzierte Sweater und scharf geschnittene Blazer, die im Rücken bloß aus einer dünnen Schicht pastellfarbenen Futters bestehen, werden zu den Doppelröcken kombiniert. Blumenranken aus Schaffell verzieren transparente Seidenkleider. Romantisches, helles Leinen und zum Sprengen enge Lederjacken gehen über in Pradas Signatur-Material Nylon, aus dem in dieser Saison futuristische Abendkleider samt grober Reisverschlüsse und Klettveschluss-Details entstanden sind.
Die Schleife ist außerdem bei Cavia Thema. Italienisch für "Versuchskaninchen" ist Martina Boeros Marke ihre Plattform, um sich auszuprobieren. Wie viele junge Marken arbeitet die Italienerin nur mit recycelten Materialien, die sich in dieser Saison aus Strick, Tartan-Stoffen und Denim zusammensetzen. Boero schafft ein stimmiges Bild, platziert ihre punkig-süßen Modelle in der ikonischen Pasticceria Buonarotti. Stoff-Rosen besetzen Miniröcke, wollene Schleifen Strickpullover, karierte Rüschen kurze Kleider – Hosen sind aus bunten Blumen gehäkelt. Am stimmigsten sind die an der Strickmaschine gefertigten, bunt geringelten Wollkleider und Pullover, in denen der handgefertigte, nachhaltige Ansatz in Symbiose mit Mode und Tragbarkeit besonders gut aufgeht. Cavia gehört zu den Experimenten, die die italienische Modezukunft sicher bald mitbestimmen können.
Zu den modischen Experimenten gehört auch Ferrari. Das Automobil-Unternehmen/Modelabel zeigt seine siebte Kollektion im Teatro Alcione, in dem der berühmteste Bob der Modebranche pünktlich zu Show-Beginn schon Platz genommen hat: der von "Vogue"-Chefin Anna Wintour. Neben ihr und Branchengrößen wie "The New York Times"-Kritikerin Vanessa Friedmann sitzt, etwa auf gleicher hierarchischer Ebene, die Influencer-Riege, schon in der heute erst gezeigten Kollektion eingekleidet.
Und während Gucci das neue "Rosso Ancora" ausschöpft, präsentiert Ferrari seine ganz eigene Rotnuance. Das aus der Motorwelt übernommene "Rosso Corsa" dominiert die ersten lackledernen Looks, zieht sich über seidige Pyjama-Outfits und Pelz-Kostüme. Schwarz und Stahlgrau folgen und gehen in Silber, Elfenbein, Navy und Schokoladenbraun über.
Fließende und voluminöse Silhouetten, glänzende, dynamische Materialien und Statement-Accessoires bestimmen die monochromen Looks. Wrumm Wrumm, Creative Director Rocco Iannone übersetzt schnelle Autos in laute Kleidung. Für den nächsten Ferrari-Ausflug ist man jedenfalls bestens gekleidet, im Partnerlook mit dem Gefährt.
Models, die mit Müll beworfen werden
Beate Karlsson hingegen übersetzt negative Social-Media-Kommentare in wortwörtlichen Müll auf dem Laufsteg und sorgt am letzten Tag der Mailänder Modewoche für Diskussionen. Oft wurde in den vergangenen Saisons über den schmalen Grat zwischen Performance und Modenschau und den verloren gehenden Fokus auf die Kleidung gesprochen. Die Avavav-Show steht als weiteres Beispiel dafür, was passiert, wenn der Entertainment-Faktor priorisiert wird.
Obwohl Karlsson in dieser Kollektion neue Silhouetten und abgewandelte schon bekannte präsentiert, macht letztlich vor allem die Inszenierung von sich reden. Während die Models in den 26 Looks den Laufsteg hinabstolzieren, werden sie von präparierten Gästen aus der Frontrow mit realem Müll beworfen, von Coladosen über Kaffe-To-Go, der sich über die Frauen, die Kleider und den ganzen Runway verteilt.
Im Hintergrund laufen über eine digitale Tafel Hass-Kommentare, denen sich das experimentelle, konzeptionelle Label Avavav in den letzten Jahren ausgesetzt sah. Diese hat Karlsson analogisiert. Alle Models seien gebrieft worden, verteidigen sich die Verantwortlichen gegen negatives Feedback nach der Show, das vor allem die Rolle der abgeworfenen Frauen anprangert. Avavav polarisiert, jedoch mehr durch streitbare Darbietungen als durch herausragende Mode - und selbst wenn Karlsson Onlinekultur bestens versteht und Raum für wichtige Diskurse schafft, sollte dies auch mit den Entwürfen an sich umsetzbar sein.
Sunnei hat die Mode-Performance dagegen perfektioniert. Diese Saison schickt das Duo aus Loris Messina und Simone Rizzo ihre Mode – witzig, modern, tragbar, durchdacht – über den Laufsteg, während als Audio-Untermalung die geskripteten Gedanken der Models eingeblendet werden. Von im Kopf durchgesprochenen Zungenbrechern bis zu vorgestellter Opernmusik bringt das ausgespielte Kopfkino das Publikum zum Schmunzeln.
"Hmmm ich kann es nicht erwarten Pasta zu essen, italienische Pasta, Fussili, Ravioli, Risotto", hallt es bei einem Model in einem blauem Oktopus-Schal durch den Raum. Vielleicht ist Pasta das einende Element dieser Mailänder Modewoche: in den Gedanken, als Tasche, oder im Bauch.