Abgetragene Kleidung, zu Haufen geschichtet, Glasscheiben, auf ein Eisengerüst zu einem (unbetretbaren) Iglu geformt, eine Landkarte Italiens in Gestalt von Bodenblechen – die Arte Povera ist genau das, was der Name besagt: eine "arme Kunst". Sie ist der bedeutendste Beitrag Italiens zur Kunst nach 1945. Wie stets, kann man über Anfangs- und Endzeitpunkt verschiedener Ansicht sein; unbestreitbar aber ist, dass die Arte Povera ihre Hoch-Zeit vor gut 50 Jahren hatte um und nach 1970.
Die Protagonisten der Arte Povera liefen gegen die etablierte Institution des Museums Sturm, aber auch ihnen bleibt nicht erspart, am Ende – und bereits nach dem Tod ihrer bedeutendsten Vertreter – doch im Museum zu landen. Die Präsentation im clean-coolen Gehäuse des White Cube, des neutralen Museumsraumes, übernimmt die Pinault-Stiftung in ihrem Pariser Haus, der von Tadao Ando so edel-minimalistisch hergerichteten Bourse de Commerce.
Wer die ein oder andere Aktion der Arte-Povera-Künstler außerhalb des Museums erlebt und erfahren hat, wird ein bisschen wehmütig sein angesichts der jetzigen, gewissermaßen staubfreien Präsentation. Künstler wie Mario Merz, Jannis Kounellis oder Luciano Fabro, um nur einige der großen Namen zu nennen, wollten ja gerade die ästhetischen Potenziale der Nicht-Kunst-Materialien freilegen, wollten weg vom Künstler-Genie und hin zum handwerklichen Produkt. So wie der früh verstorbene Alighiero Boetti, der 1971 erstmals das damals noch friedlich-verschlafene Afghanistan besuchte und die örtlichen Weberinnen mit der Herstellung seiner alsbald berühmten, gestickten Weltkarten beauftragte.
Realität nicht abbilden, sondern schaffen
Mario Merz kaprizierte sich auf die Ur-Form des Iglus als Schutzhütte, und dazu auf die wundersame Leonardo-Fibonacci-Reihe, ein Zahlenspiel, das schon die mittelalterlichen Mathematiker fasziniert hat und bis heute nicht in eine restlos befriedigende Form gebracht werden kann – sie reicht von der Eins buchstäblich in die Unendlichkeit. Witzig, dass Merz die durch Addition ihrer Glieder stark zunehmende Zahlenreihe einmal von Gästen in einem Restaurant nachstellen ließ – bis zur 55 gelang es ihm, Leute in den engen Gastraum zu quetschen, der anfangs nur einen einsamen Gast beherbergte.
Von Jannis Kounellis hätte man gerne eine seiner Arbeiten mit Gasflammen wiedergesehen, aber die strapazierten schon immer die feuerpolizeilichen Vorschriften. Ihm war es darum zu tun, mit dem Kunstwerk Realität nicht abzubilden oder nachzuformen, sondern unmittelbar selbst zu schaffen. Kunst und Wirklichkeit sollten nicht länger auseinanderfallen.
Michelangelo Pistoletto entwickelt seit 1962 seine Spiegelbilder, mit lebensgroßen, realistischen Porträtfiguren bemalte Spiegel, in denen der Betrachter selbst zum Teil eines nis zu fixierenden Kunstwerks wird. Giuseppe Penone grüßt bereits vor dem Eingang der Bourse mit einem seiner bronzenen Baumgerippe, deren Astgabeln schwere Steine halten – ein offenkundiger Widerspruch zur Natur, an dem sich der Betrachter reibt.
Damals muss es funktioniert haben
Ob sich der Besucherstrom, der gleich vom ersten Tag an die Bourse füllt, insgesamt an der historisch gewordenen Arte Povera reibt, dürfte zu bezweifeln sein. Die Rotunde der Bourse ist gleich ganz eingezäunt, damit Besucher nicht die fragilen Arbeiten in der Mitte des Runds beschädigen.
Nachgestellt wird der Deposito d'Arte Presente, ein nicht-kommerzieller Galerieraum in Turin, in dem Ende der 1960er-Jahre zusammenfand, was bald unter das griffige Label Arte Povera gefasst wurde – ein Ort, der den Besucher zu einer erhöhten Sensibilität für den Raum und seine eigene Existenz treiben sollte. Ausgerechnet im strengen und arbeitsamen Turin! Damals muss es funktioniert haben, anders wäre die alsbald weltweite Ausstrahlung der Arte Povera kaum zu erklären. Nun ist die arme Kunst selbst kostbar geworden.