Die Sonne steht um sieben Uhr früh in diesen Tagen Ende Mai schon erstaunlich hoch, der Main ist spiegelglatt und auf der Brücke haben sich an diesem Samstagmorgen ungewöhnlich viele Menschen versammelt. Noch weiß niemand, was zu erwarten ist bei der angekündigten Performance Cyprien Gaillards, der mit der Aktion eine neue Skulptur einweiht, die eine knappe Viertelstunde enfernt liegt und nur dann zu sehen sein soll, wenn man von ihr weiß.
Für Performances war der 1980 geborene französische Künstler bislang nicht bekannt. Aber er hat schon Bagger zu einem Ballett orchestriert, und auch im Mobilisieren von Menschen ist er ziemlich gut, wie zum Erklimmen seiner Bierpyramide in den Kunst Werken in Berlin vor zehn Jahren. Aber wohin soll man nun schauen? Auf dem Wasser kommen ein paar Enten flussaufwärts, eine Colaflasche treibt in die andere Richtung. Die Direktorin des Museum für Moderne Kunst (MMK), Susanne Pfeffer, die Skulptur und Performance ins Leben gerufen hat, gibt den Fragenden keine Hinweise, auch ihre Mitarbeiterinnen sagen nichts.
Plötzlich erscheint ein Schwimmer unter den Zuschauern auf der Brücke im Wasser, er hat eine Art Haube auf und steuert mit langen, kräftigen Zügen auf die Kaimauer zu, es dauert ziemlich lange. Schwimmen im Fluss ist nicht erlaubt, auch ist es viel zu kalt. Als der Mann die Leiter am Ufer hinaufklimmt, sieht man, dass er Straßenkleidung trägt: Kapuzenpulli, Jeans, Turnschuhe und Maske. Tropfnass, aber zielstrebig geht er los. Auch die Zuschauer setzen sich in Bewegung, um zu ihm aufzuschließen. Seine Art zu gehen gebietet Abstand, niemand kommt auf die Idee, ihn zu überholen oder von vorne zu fotografieren. Es ist Cyprien Gaillard, der ohne aufzublicken den Weg in die Taunusanlage eingeschlagen hat.
Er blickt vor sich wie jemand, der einen Auftrag hat. Seine Chucks hinterlassen Spuren auf dem Asphalt, und er hält nicht an, auch nicht bei Rot.
In der Parkanlage zwischen den Bankentürmen, wo sich Hochfinanz und Obdachlosigkeit, öffentliches Leben in wirklich allen Facetten abspielt, liegt noch der Müll der Nacht. Die schweigende Prozession führt vorbei an einzelnen Schlafenden, auf einer der Bänke sitzt eine Querflötistin, die eine kleine, wiederkehrende Melodie spielt und das Filmische dieser Szene hervorhebt. Diese Figur mit Kapuze, der man folgt, ist seltsam vertraut, sie ist verwandt mit Michael Fassbender aus Steve McQueens Film "Shame", der getrieben durchs nächtliche Manhattan streift, sie kommt in Massive Attacks "Unfinished Sympathy" vor, in Klara Lidéns "Grounding", in zahllosen Thrillern, in denen geheime Missionen zu Fuß mit Kapuze erledigt werden. Und man kennt jene Menschen auch aus dem realen urbanen Alltag, wie sie auf einer anderen Umlaufbahn, in einem anderen Universum unterwegs sind, ohne dass man ihren Auftrag je erfahren wird.
Der Künstler umrundet, wie um sie zu markieren, die Kunstwerke (Franz West, Eduardo Chillida) und Denkmäler (Schiller, Beethoven) der Taunusanlage. Dann öffet er die Tür eines säulenförmigen vermeintlichen Lüftungsschachts und verschwindet darin.
Der "Frankfurter Schacht" ist das neue Kunstwerk von Cyprien Gaillard, entstanden als Werkauftrag BHF-Bank-Stiftung. Es ist im Vorbeigehen nicht zu unterscheiden von funktionalen Architekturelementen der Bankhochhäuser oder der S-Bahn, aber wer die Tür öffnet, erlebt im Inneren des Rund stille Zurückgezogenheit. Außen die vierspurige Straße, innen fast schon ein Andachtsraum, ausgekleidet mit zartrosa Marmor. Die Tür lässt sich zuhalten mit einem Metallring, wie sie sonst an Toren prächtiger Anwesen zu finden sind. Der Boden ist ein Gitterrost, nach oben ist der Schacht offen und zeigt den Ausschnitt des Himmels wie ein Bild.
Cyprien Gaillard arbeitet schon immer mit der Stadt als Material – er befasste sich mit dem Abbruch von Hochhäusern, Hooligan-Schlachten in Hochhaussiedlungen, während der Pandemie fuhr er mit dem Fahrrad in Berlin die Architekturdenkmäler ab und fotografierte an den Haltestellen der äußeren Stadtbezirke die aufgetürmten Jägermeister-Flaschen.
Cyprien Gaillard erhielt den Auftrag, für das MMK, dessen Dependence "Tower" an der Taunusanlage liegt, eine Skulptur im öffentlichen Raum zu entwickeln. Voraussetzung auch hier war seine Beschäftigung mit der Stadt, dem sozialen Raum genau an diesem Ort, wo das Banhnofs- auf das Finanzviertel trifft. Von hier aus verbreiteten sich seit den 1980er-Jahren die Bilder vom Drogenelend vor den Spiegelfassaden der Banken – die Abschottung einerseits und das Ausgeliefertsein andererseits drastisch auf den Punkt gebracht.
Hier einen Ort des Rückzugs zu schaffen, dessen Materialien luxuriös sind und der nicht nur funktional ein Problem wegorganisiert, ist so menschenfreundlich wie politisch. Insbesondere deshalb, weil er sich nicht nur an eine spezifische Gruppe richtet, sondern an alle.