Matteo Tamburini, Sean McGirr, Alessandro Vigilante, Stefano Gallici, Adrian Appiolaza, Walter Chiapponi und Pelagia Kolotouros. Nein, das sind nicht diese ominösen sieben Zwerge hinter den sieben Bergen – diese Namen unterstreichen die extreme Fluktuation von Kreativ-Direktoren, die seit einiger Zeit in den großen Modehäusern von Mailand bis Paris vor sich geht. Für Tod’s, Alexander McQueen, Rochas, Ann Demeulemeester, Moschino, Blumarine und Lacoste haben diese Sieben in der gerade beendeten Saison ihre ersten Kollektionen gezeigt. Manche erfolgreich, wie etwa Appiolaza, dessen Moschino-Debüt als eine gelungene Balance zwischen Absurdität und Tragbarkeit eingeordnet wurde. Andere unter Häme und fast schon Hass wie Seán McGirr, dessen von Loewe geprägte Handschrift eingefleischte Alexander "Lee" McQueen-Fans bei Weitem nicht überzeugen konnte.
Was diese Aufzählung außerdem unmissverständlich demonstriert, ist die absolute Benachteiligung von weiblichen Kreativ-Direktoren und generell die weitreichende Absenz von Frauen in Spitzenpositionen in der Modebranche. Im Roulette der Führungskräfte scheint die Auswahl an weißen, mitteljungen Männern schier endlos zu sein. Dagegen wird, wie in vielen kreativen Berufsfeldern, so getan, als gäbe es einfach keine Kandidatinnen, die für diese Positionen geeignet wären. Dabei sind Modestudiengänge und die Ateliers voll von Frauen, die sich oft gar nicht mehr für die wichtigen Posten bewerben. Den Job kriegt ja eh ein Mann. Außer einen.
Chemena Kamali feierte diese Saison in Paris ihr Debüt beim französischen Modehaus Chloé. Im Herbst hatte Gabriela Hearst hier tanzend auf dem Laufsteg die Rolle der Creative Direction niedergelegt. Und die Wahl ihrer Nachfolgerin – zwei Frauen nacheinander, man glaubt es kaum – bestätigt wieder einmal, dass Mode von Frauen für Frauen relevanter ist denn je. Chemena Kamali wurde 1981 in Düsseldorf geboren, studierte Modedesign in Trier und später an der Central Saint Martins in London. Ihr Ziel schon damals? Bei Chloé arbeiten, nichts anderes kam in Frage. Nach ihrem Abschluss, erzählt sie der "Vogue", sei sie nach Paris gefahren, um bei der von ihr geliebten Modemarke anzuheuern.
"So einfach war das"
Tatsächlich wurde sie als Praktikantin und dann als Junior Designerin eingestellt, arbeitete unter der damaligen kreativen Leitung Phoebe Philo und genoss die Begegnungen und das Zusammenarbeiten der Frauen im Atelier: "Es ging wirklich primär darum, was sie selbst anziehen wollten – so einfach war das. Nach diesem Vorbild entwarfen sie. Sie passten die Kleidung an sich selbst an und fragten intuitiv, wie sich die Sachen anfühlten und welche Attitüde sie zum Ausdruck bringen wollten – das war die Zauberformel."
Einmal schon war Kamali zu Chloé zurückgekehrt, um unter Clare Waight Keller zu designen. Zuletzt war sie bei Anthony Vaccarellos' Yves Saint Laurent als Designdirektorin der Damenbekleidung tätig gewesen. Für ihr zweites Comeback und den Beginn ihrer eigenen Ära bei Chloé besinnt sich die zweifache Mutter auf die Gefühle, die sie spürte, als sie sich das erste Mal in das Haus verliebte. "Ich möchte zu dieser emotionalen Verbindung zurück und Chloé wieder mit seiner Seele verbinden, denn die Marke hat eine sehr warme Ästhetik."
Genau diese spaziert über den Laufsteg, als Kamali kürzlich ihre Herbst-Winter-2024 Kollektion präsentiert - in Kombination mit den Codes des Hauses aus unterschiedlichen Ären. Gerade Karl Lagerfelds Jahre als Chloé-Chef spiegeln sich in einigen Looks und Details wider. "Chloé ist eine Marke, die den Spagat zwischen romantisch, praktisch und verspielt schafft", schreibt "Vogue Runway" über das Modehaus - Kamali verbindet in ihrem Debüt all diese Faktoren auf meisterhafte Art und Weise.
Souverän-glamouröse Note
Nietenbesetze Ballerinaschuhe holen wallende Rüschenkleider von ihren fluffigen Wolken, kurze Ledercapes legen sich über transparente Tuniken, strahlend goldene Statement-Ketten über Rollkragen sorgen für eine souverän-glamouröse Note. Teure braune Overknee-Stiefel schauen unter dicken karierten Pfededecken-Mänteln heraus, weiße und schwarze Spitze begegnet den Betrachtenden nicht sanft, sondern selbstbewusst und sexy, enorme, voluminöse Schultertaschen spielen mit samtenen und seidenen Minikleidern.
Die Farbpalette zum Anbeißen changiert zwischen saftigen Brauntönen, Puderfarben, Senf und Khaki-Nuancen und arbeitet sich bis zu dunklem Grün, gedämpften Pink-und Rosenholz-Schattierungen und einem perfekt fliedrigen Babyblau vor. Ein aus goldener Schreibschrift geformter "Chloé"-Schriftzug verziert als Gürtel die Taillen, fließende Stoffe werden zu überlangen Ärmeln, flatternde Kleidersäume in hochsitzende Stiefel gesteckt.
Die 2002 von Phoebe Philo kreierte Bracelet-Bag ziert die Handgelenke, alles weht und schaukelt. Fransen, Piloten-Brillen, Stirnbänder, Pelz, Lack und Leder ergeben ein wunderbar stimmiges Bild von 70’s-Vibe, Eleganz und Laissez-Faire. Oder, kurz gesagt: einem modern interpretierten Boho-Chic.
Eine Wiederbelebung, ein frischer Wind
Schon wenige Momente, nachdem das bejubelte Debüt vorüber ist, überschlagen sich die positiven Kritiken. Diese Show hat Spaß gemacht, berührt, und viele Emotionen ausgelöst - so, wie es Kamali sich gewünscht hatte. Als eine Wiederbelebung, ein frischer Wind wird die Kollektion beschrieben, als Erlösung von einer sonst vor sich hinsiechenden Pariser Fashion Week.
"Ein sehr sexy Debüt, das mir genau erklärt, was diese Saison bei Yves Saint Laurent gefehlt hat: mehrere Blickwinkel. Der karierte Mantel mit den Hotpants, ein durchsichtiges, aufreizendes Tanktop mit einer geradlinigen Hose, die Stücke existieren durch eine unendliche Kombination verschiedener Frauen, nicht bloß durch die Models vor uns", kommentiert es Modekritikerin Alexandra Hildreth.
Denn während Anthony Vaccarello diese Saison ungefähr 50 mal das gleiche durchsichtige Minikleid an mageren Modellen zeigte, das an niemand anderem auch nur entfernt gut aussehen kann, gibt uns Kamali eine komplette Stilrichtung, die sich in jedes Alter und jede Figur übersetzen lässt. Sie bietet Referenzen und Inspiration, aus der sich jeder bedienen kann und verzückt nostalgische Millenials, die in ihren Entwürfen ehemalige Stilvorbilder, wenn nicht einen ganzen Lebensstil wiederentdecken.
Die Rückkehr der Olsen Twins
"Ihr versteht nicht, was das Boho-Chic-2005-Revival für mich bedeutet" twittert X-user Hunter (@highendhomo) kurz nach dem Chloé-Comeback. Dazu postet er ein Bild von Mary-Kate Olsen aus den frühen 2000er-Jahren, auf dem sie eine weiße Tunika gepaart mit einer riesigen schwarzen Schultertasche trägt. In der Hand das Trendaccessoire der "aughts", einen Starbucks-Becher, ihre blonden Haare wellen sich lose über ihre Schultern.
Während der Stil der frühen 2000er samt Bleichjeans und Strass-Schmetterling seinen Revival-Zenit erreicht hat und auch der Indie-Sleeze eine Rückkehr zelebrieren durfte, sind wir dank Chemena Kamali zurück in der Ära der It-Girls, der Taschen in der Armbeuge, der Gladiatoren-Sandalen, der Häkeltunika, der Oversized-Lagenlooks und in Stapeln getragenen Ketten. Wer der großmütterlichen Überzeugung "Alles kommt wieder" gefolgt ist, ist jetzt gut ausgerüstet: Bauchige Wildledertaschen, Fransen-Elemente und Babydoll-Kleider werden erneut willkommen geheißen.
"Gossip Girl" Serena van der Woodsen, Mischa Barton 2007 auf der Flucht vor den Paparazzi, genau wie Nicole Richie und Lindsay Lohan, die Olsen-Twins bei der Met-Gala 2005: Sie alle gelten als legendäre Boho-Stilikonen, die für manche nie aus der Mode waren, jetzt aber zweifellos zurück sind. Ein besonders schönes Bild ist das aus der Chloé-Frontrow, in der eines der originalen Boho-Testimonials, Sienna Miller, neben all den weiteren Ehrengästen sitzt. An den Füßen trägt die ganze Reihe hölzerne Keilabsatz-Sandalen. Selten schrie etwas so sehr "Trendwende Richtung Boho-Chic", wie dieser Schnappschuss.
Der neue, alte Bohemien-Look
Chemena Kamali hat gesagt, sie wolle für die Kollektion in die Vergangenheit und die Zukunft gleichzeitig schauen, und das scheint ihr geglückt: Die Masse ist wild auf den neuen alten Bohemien-Look, zarte Leichtigkeit im konkreten und übertragenen Sinne. Auch Julien Dossena bei Pacco Rabanne und Isabel Marants Kollektion deuteten die Strömung an, Kamali etabliert sie unmissverständlich.
Gleichzeitig erinnert die neue Kreativ-Direktorin an Chloés DNA und die Design-Anfänge der Markengründerin Gaby Aghion. April Hennig von Moda Operandi erklärt "Vogue Business": "Chemena hat den Trend nach vorne gebracht, indem sie ihm eine selbstbewusste Haltung verliehen hat, die ihm ein frisches und ermächtigendes Gefühl verleiht - ein Gefühl, das sich am besten durch das Design einer Frau für Frauen ausdrückt. Eine Sexyness von innen heraus, nicht für den männlichen Blick."
Schon die erste Boho-Welle entsprach dem Gegenteil eines Stylings, das Männern gefallen soll. Zwar ist das eine oder andere luftige Sommerkleid dabei, doch Boho-Chic ist auch American-Apparel-Kapuzenjacke zu Band-T-Shirt, bodenlangem Rock, Schlappen, Cowboy-Hut und Omis Kettensammlung. Ein Gefühl der Geborgenheit, kokonartig, lässig, behangen, die Finger voller Ringe, die Hände voller Coffee-To-Go, die Sonnenbrillen so groß, dass der Fliegen-Vergleich nahe liegt. Chemena Kamali erklärte dem "Harper's Bazaar: "In dieser Kollektion geht es um Intuition und weibliche Energie, und ich würde mich wirklich freuen, wenn Frauen das spüren würden, denn ich spüre es." Und ja: Chemena, wir spüren es. Nichts geht über Emotionen und Emanzipation, vereint in einer Kollektion.