Anderthalb Millionen Objekte umfasst die Sammlung, die Egidio Marzona in einem halben Jahrhundert zusammengetragen hat. Am Nikolaustag des Jahres 2016 offerierte der Galerist, Verleger und zuallererst Freund und Förderer der Künstler diesen sagenhaften – weil nie zur Gänze sichtbaren – Bestand den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und ihrer neuen Generaldirektorin, Marion Ackermann.
Die hatte kurz zuvor, und noch bei der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen im Amt, für ihr Düsseldorfer Haus den Bestand der Galerie Konrad Fischer gesichert. Die wurde bedeutend in jenen 1960er-Jahren, als auch Marzona seine Liebe zur Kunst entdeckte. Und so fand er in Dresden genau den richtigen Ort, um seine auf diverse Lager verteilten Schätze aufzunehmen und für die Öffentlichkeit fruchtbar zu machen. 200.000 Gegenstände kamen zwei Jahre darauf als weitere Schenkung Marzonas obendrauf.
Dazu wurde eigens ein Gebäude errichtet: das Blockhaus an der Neustädter Seite der Augustusbrücke, mit herrlichem Blick auf Dresdens vieltürmige Silhouette. Genau genommen ist es ein Haus-im-Haus, denn die Fassade des im 18. Jahrhundert auf Befehl Augusts des Starken errichteten und seither vielfach umgenutzten Ortes musste vollständig erhalten werden. Im Inneren aber haben Nieto Sobejano Arquitectos, die längst neben Madrid auch in Berlin ansässigen Spanier, einen Betonkubus in einer ingeniösen Konstruktion von oben herab hineingehängt, ohne besagte Außenhaut anzutasten.
Preziosen in 5000 Boxen
Drei Stockwerke sind entstanden, mit verschiedenartigen Räumen für Depot, Archiv und öffentliche Bereiche. Das mittlere Geschoss durchschneidet ein imposantes Bücherregal, 24 Meter lang und sechs Regalböden hoch, als Freihandbibliothek. Dahinter verbergen sich neben dem Archiv zwei verglaste, abgeschlossene "Vorlegeräume", in denen interessierten Nutzern nach Voranmeldung die Preziosen aus einer oder mehreren der nicht weniger als 5000 Boxen ausgebreitet werden. Diese hatte Marzona selbst vorsortiert. Sie wurden eins zu eins in konservatorisch angemessene Archivkisten umgelagert, dabei auch seit 2020 schrittweise digitalisiert, sodass mittlerweile 750.000 items online zur Verfügung stehen.
Was hat Egidio Marzona eigentlich gesammelt? Die Antwort fällt leicht: alles. Einfach alles, was im Zusammenhang mit Kunst und deren Verbreitung anfällt. In Dresden spricht man von "Ephemera" und meint damit Greifbares von Zeitschriften bis Einladungskarten, von Fotografien bis Manifesten. Und diverse Objekte, 8000 an der Zahl, darunter etliche Möbelstücke. Die hat Marzona gleich mit zusammengetragen: vielfach Unikate und nirgends sonst zu finden, wie der Archivleiter Rudolf Fischer versichert.
Überhaupt ist das, was Marzona gesammelt hat und im Übrigen auch weiterhin sammeln will, nirgendwo anders zu finden. Und doch schier unverzichtbar, wenn man die Geschichte der Avantgarden des 20. Jahrhunderts verstehen will. Die beschränkte sich eben nicht darauf, museale "Werke" zu schaffen, sondern wollte den Entstehungsprozess selbst zum Gegenstand machen und eben "prozessual" arbeiten.
Berlin hat es versäumt, den Sammler an sich zu binden
Den Beweis tritt die Eröffnungsausstellung im Erdgeschoss an, die dem Surrealismus gewidmet ist. Dessen 100-jähriges Gründungsjubiläum wird in diesem Jahr allerorten begangen. In Dresden wird unter dem Titel "Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls" von Kuator Przemyslaw Strozek eine Geschichte in Form von Publikationen, aber auch Filmen und Fotografien aufgeblättert, angeordnet um das Zentralmotiv des Traums. Der diente den Surrealisten als primäre Quelle, ihn suchten sie in ihren Schöpfungen zu fassen und auf Dauer zu stellen. In dieser Ausstellung wird die Eigenart des Dresdner Hauses "zwischen Archiv und Museum" greifbar, die Marion Ackermann als "Ding dazwischen" beschreibt.
25 Millionen Euro hat sich der Freistaat Sachsen das "Ding" kosten lassen: in einem Kraftakt bewilligt, wie auch nicht weniger als neun Stellen für den Betrieb. Wie Marzona zuvor ohne ein derartiges Team ausgekommen sein mag, bleibt rätselhaft. Wie es dem Sächsischen Immobilienmanagement gelungen ist, mit 25 Millionen diesen Bau zu schaffen und innerhalb des bewilligten Rahmens zu bleiben, ist zumindest aus Berliner Sicht mindestens ebenso faszinierend.
Die Bundeshauptstadt hat es jedenfalls versäumt, den in Berlin lebenden Sammler an sich zu binden, über die Schenkungen hinaus, die er vor Jahren schon dem Hamburger Bahnhof gemacht hatte. In Dresden steht nun ein ganzes Haus unter seinem Namen unübersehbar am "anderen" Elbufer. So eine Lage hätte Berlin ohnehin nicht bieten können. Die gute Nachricht aber ist, dass diese unvergleichliche Sammlung nunmehr öffentlich ist und von allen Interessierten benutzt werden kann. Ein Gewinn, kaum hoch genug zu veranschlagen.