In Frankreich gelten sie als "neunte Kunst", und auch wer die davor liegenden acht Künste nicht aufzuzählen vermag, wird den Kunst-Charakter der Comics oder der bande dessinée (BD), wie sie hierzulande heißen, ohne Zögern bestätigen. Als vor nun schon mehreren Jahrzehnten der neue Typ an Volksbücherei, mèdiatheque genannt, frischen Wind in die Provinzstädte des Landes blies, spielten Comics eine bedeutende Rolle: Die gab es nämlich überall zu lesen und sicherten den Häusern reichen Zuspruch an jungen Nutzern.
Aber auch die Älteren genieren sich nicht, in Comics zu schmökern, sie sind damit ja aufgewachsen. Das Pariser Centre Pompidou, eröffnet 1977, hat über die Jahre immer wieder Ausstellungen zu Comics und ihren Schöpfern veranstaltet. In diesem Sommer und Herbst aber ist die neunte Kunst insgesamt dran, mit einer Ausstellung in der sechsten Etage und Interventionen in den Etagen darunter. Nicht zu vergessen, beherbergt das Center die überhaupt größte öffentliche Bibliothek Frankreichs, deren 2500 Leseplätze von früh bis spät genutzt werden; und mehr als nur ein paar Freunde der BD sind jedesmal darunter.
Im sechtsten Stock geht es in der schlicht "Bande dessinée 1964-2024" betitelten Ausstellung nicht um die Geschichte dieser Kunstform, die im Zeitungswesen ihren Ursprung hat und in Winsor McCay ihren ersten Meister bereits seit dem Jahr 1905. Das Startjahr 1964 ist vielleicht nicht zwingend, aber es kennzeichnet die Epoche, in der die Pop Art alles überrollte und gesellschaftliche Konventionen dahinschmolzen.
Die heile Welt muss sich umorientieren
Für französische Augen vielleicht überraschend, setzt die Ausstellung mit den US-amerikanischen Underground-Comics ein, jenen mitunter wortwörtlich im Rausch produzierten Geschichten, als deren künstlerischer Meister der heute 80-jährige Robert Crumb vom ersten Moment an hervortrat. Die heile Welt der BD, für die vielleicht am eindrücklichsten der im Pompidou bereits gewürdigte Belgier Hergé mit seinem 1929 erdachten Duo "Tim und Struppi" stand, musste sich umorientieren.
Die Ausstellung ist nun nicht etwa chronologisch gegliedert, sondern sucht die Themen zu beleuchten, die sich in den 60 Jahren nach dem Underground-Urknall als bestimmend erwiesen haben. Fürs "Lachen" bleibt der Besucher in Frankreich und ergötzt sich an dem Chaoten Gaston Lagaffe, der die Arbeitswelt regelmäßig außer Betrieb setzt; eine um Gags nie verlegene Schöpfung von André Franquin (dem das Centre Pompidou gleichfalls schon eine Einzelausstellung gewidmet hat). Gesellschaftskritischer sind die stets auf eigenen Erlebnisse beruhenden Geschichten der 2020 verstorbenen Claire Bretécher, die Ende der 1970er-Jahre auch beim deutschen Publikum Furore machten.
Freilich ist die Gewichtung je nach Land unterschiedlich. Das betrifft vor allem die japanischen Mangas, die hier für das Thema "Angst" stehen. Wie nirgends sonst ist im vom Atombombenabwurf im Sommer 1945 traumatisierten Japan die Zukunft derart mit Horror und Untergang verbunden. Großäugige Kinder erobern zerborstene Städte, als Überlebende einer Welt "danach". Von den Comics zu bewegten Bildern war es in Japan nicht weit; in der Ausstellung werden daher auch Sequenzen aus Anime-Filmen gezeigt.
Treiber der Superhelden-Renaissance
Für die USA typisch sind die diversen "Superman"-Figuren, die in den 1930er-Jahren wurzeln und während des Zweiten Weltkriegs mit Figuren wie "Captain America" ihre große Zeit erlebten. Der New Yorker Verlag Marvel Comics war der Treiber der Superhelden-Renaissance seit den 1960er-Jahren, ermöglicht auch durch den Wegfall der zuvor mächtigen Zensur. Die Ausstellung gibt Einblick in die serielle Herstellungsweise dieser Geschichten, bei der bestimmte Versatzstücke immer wieder Verwendung finden.
Allerdings hat auch der reale Horror der Geschichte in die Fantasiewelt der Comics Eingang gefunden. Zwar war diese Stilform immer schon in der Umgebung historischer Ereignisse angesiedelt. Doch ganz und gar die Realität zum Strip gemacht hat Art Spiegelman mit seiner vielfach übersetzen und preisgekrönten "Maus". Holocaust als Bildgeschichte, das schien bis dahin undenkbar und ist doch mit dieser Vergegenwärtigung des Familienschicksals des Zeichners geradezu selbstverständlich. Doch auch in Japan gab es Vergleichbares: mit der vom Atombomben-Trauma überschatteten Geschichte des "Barfüßigen Gen" von Keiji Nakazawa.
Im vorletzten Raum überrascht die Ausstellung mit einer veritablen Modelllandschaft. Der 1962 geborene kanadische Zeichner Seth – bürgerlich Gregory Gallant – bastelt sich Modelle der Häuser und Straßen, in denen seine Geschichten aus dem Alltag spielen, um die Dreidimensionalität besser zu erfassen. Am Ende der zwölf Ausstellungskapitel ist man erstaunt, wie vielfältig und oft auch "uncomicmäßig" Comics sein können. Und kehrt zum Ausgleich zu einer der linearen Geschichten zurück, die den Erfolg der französischen BD ausmachen: dem Welterfolg von "Asterix". Vom unbesiegbaren Gallier sind einige Originalzeichnungen seines Erfinders Albert Uderzo zu sehen. Schwarz-weiß natürlich. Die Farbe kommt erst nachträglich hinzu. Comics sind immer ein Gemeinschaftsprodukt.