Besuch bei Künstler Wolfgang Laib

Aus Blütenstaub eine ganze Welt bauen

Wolfgang Laib schafft meditative Skulpturen aus Blütenstaub, Wachs oder Reis. Sein Refugium hat der international bekannte Meister des Minimalismus auf dem Land in Oberschwaben. Wir haben ihn dort besucht

"Es sollte an einem Tag ohne Regen sein." An diese Zeile muss man jetzt wieder denken, im Auto auf dem Weg zu Wolfgang Laib. Der Künstler hatte diesen Wunsch in seiner ersten Mail geäußert, da ging es um einen passenden Termin. Noch weiß man nicht, dass neben dem Atelierbesuch auch eine kleine Wiesenwanderung mit Zwischenstopps in einem Wachsraum, einem trockengelegten Wasserspeicher und einem gläsernen Pavillon bevorsteht.

Es ist ein milder Herbsttag, vereinzelte Wolken sind am Himmel, nach Regen sieht es aber nicht aus. Glück gehabt. Mit dem Auto geht es nach Oberschwaben, an Biberach vorbei, durch ein kleines Dorf, dann eine steile Auffahrt am Saum eines Waldes entlang. Die Straße führt zu Wolfgang Laibs Wohnhaus. Ein rechteckiger, moderner Bungalow mit verglaster Front.

Der Künstler steht schon an der Tür und winkt. "Hallo, herzlich willkommen!", sagt er mit leiser Stimme. Freundlich-verschmitzte Augen schauen interessiert durch eine kleine Brille mit runden Gläsern. Ob man wie besprochen schmutzresistentes Schuhwerk mitgebracht habe, möchte er wissen. Er würde gern zuerst das Atelier zeigen, dafür müsse man aber den Hang hinunter. Durch die Regenfälle der vergangenen Tage sei alles ein wenig matschig.

Die Grenze zwischen Atelier und Natur verschwimmt

Inzwischen hat sich auch Laibs Frau Carolyn dazu gesellt, und so geht es im Gänsemarsch die Wiese hinunter bis zu einem kleinen Fachwerkhaus. Was ehemals eine Scheune war, ist heute Wolfgang Laibs lichtdurchflutete Kunstoase. Ein weißer, Ruhe ausstrahlender Raum mit bodentiefen Fenstern. Sie geben den Blick frei auf die umliegenden Wiesen und Wälder, lassen die Grenze zwischen Atelier und Natur verschwimmen.

"Hier", der Künstler verteilt Hausschuhe. Die Gummistiefel müssen draußen bleiben, es soll kein Schmutz in das saubere Interieur gelangen. Da ist er penibel. "Gerade ist es ziemlich voll", sagt Laib lachend und schaut sich um. Auf dem harten Betonboden verteilt liegen verschiedene Materialien, Bücher über Indien und den Buddhismus, aber auch Skulpturen und Installationen in den unterschiedlichsten Schaffensstadien. 

Häuser aus Bienenwachs treffen auf noch unbearbeitete weiße Marmorblöcke und kleine Reishäufchen. Es fühlt sich an wie eine begehbare Collage, die Laibs meditativ-monumentales Oeuvre abbildet. Und obwohl dieser Raum durchaus gut gefüllt ist, wirkt die Zusammensetzung der Objekte durchdacht und strukturiert, nichts ist rein zufällig hier. Der Künstler scheint den Platz für jedes noch so kleine Reiskorn mit kuratorischer Präzision genau eruiert zu haben. So, wie man es auch von seinen Ausstellungen gewöhnt ist.

Kunst statt Medizin, Kunst als Medizin

An der Wand stehen dutzende kleine Tontöpfchen, gefüllt mit grauem Staub. "Vibhuti, heilige Asche aus Indien." Im Hinduismus habe die Asche verschiedene symbolische Bedeutungen und werde auf diverse Körperstellen aufgetragen, unter anderem wegen ihrer heilenden Energie. Wolfgang Laib erzählt, wie er einmal zweitausend Tongefäße und zwei Tonnen Vibhuti aus Indien für seine Kunst importieren ließ. Dann zeigt er auf einen Marmorblock: "Milchsteine, damit hat Vieles begonnen."

1975 war das. Der 25-jährige Wolfgang Laib, Sohn eines Orthopäden, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden, dass er trotz seines abgeschlossenen Medizinstudiums nicht in diesem Berufsfeld arbeiten würde: "Mich hat an der westlichen Medizin gestört, dass sie den Menschen nur als materiellen Körper wahrnimmt. Ich wusste einfach, dass das nicht alles ist und viel mehr dazugehört." Noch während seines Studiums begann er, sich anderweitig umzuschauen, schrieb sich nebenher für Indologie ein und lernte Sanskrit. 

Nach dem Abschluss stand für den jungen Laib fest: Er möchte Kunst machen. Und so schuf er bald seinen ersten "Milchstein" - einen weißlichen Marmorblock mit flach ausgeschliffener Mulde, in der sich eine feine Schicht Milch befindet. Inspiriert vom Jainismus, in dessen Kultur Statuen der spirituellen Führer zur Verehrung und Anbetung mit einer Milchmischung übergossen werden. Die nährende Flüssigkeit als etwas Reinigendes, Heiliges.

"Eigentlich gab es nur uns und die Kunst"

Auch Wolfgang Laib sieht das Kostbare in dem natürlichen Stoff. Sein "Milchstein" - diese eigenartige und berührende Skulptur - machte die Kunstwelt auf ihn aufmerksam. Schon in jungen Jahren wurde er international für seine Arbeit gefeiert. Er bespielte Orte wie das Museum of Modern Art in New York, die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel und das Musée National de l’Orangerie in Paris. 2015 wurde er mit dem japanischen Kunstpreis "Praemium Imperiale" ausgezeichnet. 

"Gehen wird doch weiter zum Wachsraum", schlägt er nun vor und schließt das Atelier ab. Der Künstler führt die kleine Truppe zurück zum Wohnhaus, dann Richtung Wald. Hier hat er den Großteil seiner Kindheit und Jugend verbracht. Eine prägende Zeit, in der ihn seine Eltern mit ihrer Kunstbegeisterung ansteckten: "In unserem Haus gab es kaum Möbel. Eigentlich gab es nur uns und die Kunst". Auch die Liebe zu Indien hat er von seiner Familie, die nicht nur eine große Faszination für die dortige Kultur pflegte, sondern auch jahrelang beim Aufbau eines südindischen Dorfes mithalf.

Der Weg zu Wolfgang Laibs privatem Wachsraum führt an einem großen Teich vorbei. "Da sind einige Goldfische drin", Carolyn Laib deutet auf einen orangen Schatten. Lange arbeitete sie als Restauratorin für afrikanische und asiatische Antiquitäten, heute unterstützt sie ihren Mann bei dessen Kunstkarriere, begleitet ihn zu allen Ausstellungen. 

"Der Blütenstaub ist das Werk"

Es geht über eine weitläufige Lichtung bis zu einem bewaldeten Berghang, in dem sich eine große, schmale Tür befindet. Ein ehemaliger Bunker? Nein, erklärt Laib, das hätten sie alles erst vor ein paar Jahren gebaut. Die Tür springt auf, und ein betörender Geruch strömt heraus. Der 13 Meter lange Gang ist rundherum mit goldgelben Wachsplatten verkleidet, die die Besucherin wie eine Umarmung umschließen. Die höhlenartige Atmosphäre wirkt beruhigend, sodass man sich kaum trennen kann. Doch Wolfgang Laib drängt zum Aufbruch, es gebe schließlich noch mehr zu sehen.

Wolfgang Laib "Without Place - Without Time - Without Body", 2004, Wachskammer in der Nähe des Studios
Foto: Courtesy Wolfgang Laib

Wolfgang Laib "Without Place - Without Time - Without Body", 2004, Wachskammer in der Nähe des Studios

 

Durch frisch gemähtes Gras wird weiterspaziert. Es ist ein großes Anwesen, auf dem die Laibs residieren, zehn Hektar Land besitzen sie mittlerweile. Hier haben sie ihr eigenes, abgeschottetes Idyll geschaffen, um ganz im Einklang mit der Natur und den Jahreszeiten leben zu können. Während sich Laib im Sommer seinen Wachsskulpturen widmet, ist er im Frühjahr damit beschäftigt, Blütenstaub für seine "Staubfelder" zu sammeln. Dann zieht er stundenlang schweigend durch Wald und Wiesen, klopft Pollen von Löwenzahn, Hahnenfuß, Haselnuss und Kiefern. 

In kleinen Einmachgläsern fängt er das pudrige Gold auf und hütet es wie einen Schatz. "Mir ist wichtig, dass der Blütenstaub nicht als Farbstoff für das Kunstwerk verstanden wird. Er ist das Kunstwerk. Dieser Staub ist die Substanz, durch die potenziell neues Pflanzenleben entstehen kann. Das ist etwas unglaublich Wertvolles." Und so legt er auch allergrößten Wert darauf, dass er seinen Blütenstaub sauber und in gleicher Menge nach Ausstellungen wieder zurückbekommt: "Mehr als zwei Prozent dürfen nicht fehlen!" In dieser Aussage zeigen sich seine akkurate Arbeitsweise und der hohe Wert, den er seinen Naturmaterialien zuschreibt. Sie sind für den Künstler Träger des Lebens.

"Das sieht aus wie ein sehr altes japanisches Bild"

"Diesen besonderen Ort möchte ich noch zeigen", Wolfgang Laib holt erneut einen Schlüssel heraus. Wieder geht es unter die Erde, dieses Mal in einen trockengelegten, rundförmigen Wasserspeicher aus dickem Beton. Der Künstler nutzt ihn als Ausstellungsraum. Derzeit befindet sich darin die "Stadt des Schweigens" – eine Installation aus mehreren Wachsskulpturen, die Silhouetten unterschiedlicher Behausungen abbilden. 

Was dabei besonders auffällt, ist die Symbiose aus der Weiche des Wachses und dem harten, brutalen Material des Wasserspeichers, das die Werke einschließt. "Die Wände habe ich unverändert gelassen", Wolfgang Laib zeigt auf die weißen Kalkmarmorierungen und bräunlichen Spritzer: "Ich liebe diese Patina! Das sieht aus wie ein sehr altes japanisches Bild."

Raus geht es aus dem Wasserspeicher. "Jetzt können wir ja noch einen Tee trinken, oder?" Carolyn Laib schaut ihren Mann fragend an. Der nickt. Den sogenannten Pavillon des Paares hatte man schon vom Wachsraum aus gesehen: ein gläserner, transparenter Kubus, umgeben von Bäumen, Sträuchern und Wiesen. Möbliert ist er nicht, nur ein beigefarbener Teppich befindet sich darin, sowie eine kleine Kochnische hinter einer weißen Wand. So macht man es sich im Schneidersitz auf dem Boden bequem, während Carolyn Laib Grüntee ausschenkt und Gebäck verteilt. 

Von der Einöde nach New York

Nicht wirklich ein Wunder, dass sich die Laibs an diesem ungestörten Fleckchen Erde so wohlfühlen. Und dann unterhalten sie ja auch noch zwei weitere Residenzen – ein Haus in Südindien auf einer ehemaligen Kokosnussplantage und eine Wohnung in New York. "100 Meter vom Empire State Building entfernt", sagt Wolfgang Laib stolz. 

In die US-amerikanische Metropole, Carolyn Laibs Geburtsort, zieht es das Paar, wenn es unter Menschen kommen, sich mit der internationalen Kunstszene austauschen will. Dann begeben sich die beiden untypischerweise mitten hinein in den Trubel. Und wenn sie der großstädtischen Hektik dann doch wieder entfliehen möchten, können sie sich jederzeit zurückziehen. In ihr mönchisches Kleinod in Oberschwaben.  

Wolfgang Laibs Wachskammer in der Nähe seines Studios
Foto: Courtesy Wolfgang Laib

Wolfgang Laibs Wachskammer in der Nähe seines Studios