Mitte Juni verkündete das milliardenschwere Unterwäsche Label Victorias Secret das Aus seiner Engel. Über Jahrzehnte waren Supermodels wie Tyra Banks oder Gisele Bündchen das Aushängeschild der Marke gewesen, exklusive Repräsentantinnen, die geflügelt und mit Edelsteinen verziert, Reizwäsche vorführten. "Engel werden" wurde als das ultimative Ziel eines jeden Models vermarktet, in Casting-Videos sah man junge Frauen weinend zusammenbrechen, wenn sie erfuhren, dass sie nun zur gefiederten Familie gehörten.
Doch die "Angels" verkörperten ein Ideal, dem noch nicht ein mal sie selbst gerecht werden konnten. Immer wieder wurden Gerüchte um Essstörungen und Pre-Show-Aushungerungs-Diäten laut. Die Models durchliefen Bootcamps, um für die jährliche Victorias Secret Fashionshow gecastet zu werden, mit dem Traum vor Augen, eines Tages den diamantenbesetzten "Fantasy Bra“ tragen zu dürfen. Dass die ganze Inszenierung letztlich nicht mehr als eine umgesetzte Männerfantasie war, gab Ed Razek, früherer Marketing-Chef und quasi Schöpfer der Victorias’ Secret Engel, in einem Interview mit der "Vogue" 2018 zu. Er erklärte, dass weder Plus-Size noch Trans-Models in die Shows von VS aufgenommen würden "weil die Schau eine Fantasie ist. Es ist ein 42-minütiges Unterhaltungsprogramm. Das ist es“.
Heute möchte das Unternehmen eine führende Stimme im "female empowerment“ werden. "Als die Welt sich verändert hat, waren wir zu langsam“, sagt Hauptgeschäftsführer Martin Waters, "wir müssen aufhören, uns darum zu kümmern, was Männer wollen, und uns darum kümmern, was Frauen wollen.“ Ed Razek wurde verabschiedet, dafür kam das "Victorias Secret Collective“. Sieben Frauen, deren Aufgabe es ist, eine neue Art "sexy“ zu vermarkten: Inklusiver, diverser, quasi das Gegenteil der Version, die sich bisher verkaufte.
Adut Akech, ein aus dem Süd-Sudan geflüchtetes Model, Amanda de Cadenet, Journalistin und Gründerin von "Girlgaze“, Eileen Gu, Weltmeisterin im Freeskiing, Megan Rapinoe, politisch aktive Fußballspiellerin, Model Paloma Elsesser, Schauspielerin Priyanka Chopra Jonas und Model Valentina Sampaio werden die neuen Gesichter, Stimmen und Körper des Labels sein. Bei fast jeder steht "Advocate“ oder "Activist“ in der Beschreibung, für LGBTQIA+, Mental Wellness oder Gleichberechtigung. Und auch der Vorstand der Firma wird bis auf eine Ausnahme aus Frauen bestehen. Und die Engel? "Im Moment sehe ich sie nicht als kulturell relevant an,“ sagte Martin Waters.
Ob sie das je waren, wäre eine Frage, die sich dabei stellt. Eine andere, wie viel wahre Überzeugung hinter dem extremen Imagewandel steckt, und wie viel eine verzögerte Reaktion auf den starken Umsatzverlust ist. Die VS-Modenschau war abgesetzt worden, nachdem die Einschaltquoten von 10 Millionen im Jahr 2010 auf 3 Millionen im Jahr 2018 gesunken waren. Hunderte Filialen wurden geschlossen. Zudem war Leslie Wexner, Vorsitzender von L-Brands, Victorias’ Secrets Mutterkonzern, in den Skandal um Jeffrey Epstein verwickelt gewesen. Unterwäschelabels wie das der Sängerin Rihanna, "Savage x Fenty“, hatten umjubelt unterschiedlichste Körper und Menschen verschiedener Herkunft in ihren Shows gefeiert, schon vor Jahren. Währenddessen versuchte Victorias’ Secret, ein veraltetes Frauenbild zu retten, gegen das sich immer vehementer gewehrt wurde. "Die verspätete Kehrtwende ist zynisch und kalkuliert - ein Schritt, der nach Verzweiflung stinkt,“ schrieb Autorin Jennifer Weiner in der "New York Times".
Als der Instagram-Account @diet_prada den scheinbar radikalen Schritt des Labels postete, lasen sich die User-Kommentare ähnlich wie diese unter steifen Wiedergutmachungs-Statements von Celebrities, die nach ihren rassistischen Aussagen im Live-TV versuchen, sich aus der Affäre zu ziehen. "Gemütlich, jetzt, wo 'female empowerment' im Trend ist, mitzumachen." "Das fühlt sich nach zu wenig und zu spät an." "Am Ende ist es nur eine unfassbare Menge von massenproduzierter Fast Fashion, die uns schmackhafter gemacht werden soll, was die meisten von uns sofort durchschauen." Sie glauben Victorias’ Secret nicht, erkennen es bloß als ein weiteres prominentes Beispiel, das "Woke-Washing" betreibt.
Ein Slogan reicht nicht
Von "Woke Washing" spricht man laut der Marketingzeitschrift "Absatzwirtschaft", wenn ein Unternehmen, eine Institution oder eine Einzelperson etwas sagt oder tut, das ihr Eintreten für eine soziale Sache signalisiert, gleichzeitig aber selbst gegensätzlich oder gar nicht handelt. Es funktioniert wie mit dem Begriff "Greenwashing". H&M etwa verkauft eine "Conscious Collection“, die nachhaltige Bio-Baumwolle enthalten soll und für die bewusst Kaufenden gedacht ist. Die Marke aber produziert Fast Fashion, deren gesamtes Geschäftsmodell auf systematischer Ungleichheit und Ausbeutung beruht und so kann von Bewusstsein und Nachhaltigkeit nicht die Rede sein.
Genau so beim "Woke Washing": Ein Slogan reicht nicht, es geht darum, wie viel von dem nach außen präsentierten auch umgesetzt wird. "Du denkst vielleicht, ‚Ich habe ein T-Shirt, auf dem steht, dass ich mir um Depressionen, Gay-Rights, Black Lives Matter und Feminismus Gedanken mache - ich habe meinen Teil geleistet.‘ Aber das ist kein Aktivismus, das ist Konsumismus,“ sagte Nachhaltigkeit-Aktivistin Ruth MacGilp in ihrem Podcast "Common Threads“.
Eine rasche Gegenmaßnahme, um Spannungen und Aufschreie zu beruhigen
Kunden werden, gerade durch Social Media, immer mehr auf soziale und politische Themen aufmerksam gemacht, nehmen an Online-Kampagnen teil, ihr Wertesystem ändert sich und damit auch ihre Einstellung, wenn es um Shopping geht. Marken halten an ihren alten, kapitalistischen Idealen fest. Sie überlegen sich jedoch neue Strategien und weben Themen wie Feminismus und Antirassismus in ihre Marketing-Kampagnen ein, als hätten sie sich eines neuen Trends bedient. Und das in den meisten Fällen, ohne diesen Problemen Wichtigkeit in ihrem Unternehmen zuzuschreiben.
Dies fiel vor allem nach dem Mord an George Floyd im Mai 2020 auf. Die strukturelle Unterdrückung von Schwarzen Menschen in den USA wurde plötzlich verstärkt on- und offline diskutiert und angeprangert. Das solidarische schwarze #blackouttuesday-Quadrat wurde auf Instagram gepostet - und später wieder gelöscht, wenn es doch nicht in den Feed passte. Das nachhaltige Modelabel Reformation spendete großzügig an "Black Lives Matter"-Kampagnen, während eine ehemalige Mitarbeiterin auf Instagram das rassistische Arbeitsumfeld des Konzern kritisierte. Sie sei auf Grund ihrer Hautfarbe von der Markengründerin Yael Aflalo ignoriert, und ihr seien Beförderungen verwehrt worden.
Im Sommer dann wurden in fast jeder Kampagne Schwarze Models abgebildet, von Luxusbrands bis Fast Fashion. Sie zierten zuhauf die Magazin-Cover, die normalerweise für vor allem weiße Celebrities freigehalten wurden. Aber war die Modewelt tatsächlich aufgewacht und hatte bemerkt, wie gleich und weiß sie jahrzehntelang vor sich hin gecastet hatte? Oder war es eine rasche Gegenmaßnahme, um die Spannungen und Aufschreie zu beruhigen?
Wünscht sich die Modewelt wirklich Veränderung?
Im Jahr 2021 hatte die amerikanische Vogue bereits drei WoC (Women of Color) auf ihrem Cover. Im Januar war es die Tennisspielerin Naomi Ōsaka, das Februar-Cover zeigt die US-Vizepräsidentin Kamala Harris und war viel diskutiert worden. Auf der Mai-Ausgabe thronte die Aktivistin und Poetin Amanda Gorman in einem Louis Vuitton-Look von Virgil Abloh, göttinnengleich, stark und wunderschön. Der Titel der Juli-Ausgabe der britischen "Vogue" lautet: "Das außergewöhnliche Leben von Malala - Überlebende, Aktivistin, Legende“ unter dem Foto der pakistanischen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, ganz in Rot. Knapp daneben die Ankündigung zu "Vogues Guide zur Sommer-Schönheit“ und Faltenröcken. Und schon im Juli vor einem Jahr zelebrierte die britische "Vogue" auf dem Titel "The New Front Line - Mut angesichts von Widrigkeiten“, und bildete Kassiererinnen, Zugführer und eine Hebamme ab.
"Essential Workers sind gerade trendy, also sind sie natürlich auf dem Titelbild“, schrieb die Jornalistin Rashmee Roshan Lalla damals und verglich den angeblich revolutionären Akt mit dem im wahrsten Sinne des Wortes gehaltlosen Klatschen für das Krankenhauspersonal: "Es ist eine einzelne Ausgabe, ein Titelbild für den Moment. Wie bei 'Applaus für Pflegekräfte' ändert sich nichts - Löhne, Null-Stunden-Verträge - wirklich." Wünscht sich die Modewelt also tatsächlich Veränderung? Steht der Condé Nast Verlag hinter den politischen und sozialen Anliegen seiner neu entdeckten Cover-Stars und ist bereit, sich zu demokratisieren? Oder betreibt auch er klassisches "Woke-Washing", weil Aktivistinnen gerade gefragt sind und eine gewisse Anzahl People of Color auf den Covern sich gut als Anti-Rassismus-Maßnahme verkaufen lassen?
Das Regime
Anna Wintour ist seit über 30 Jahren Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue". Im Jahr 2020 sagte sie über die Wahl des Cover-Models: "Es ist immer noch eine Frage der Relevanz - wer treibt die Diskussion an, und von wem sind wir begeistert - aber auch eine Frage der Werte: Wofür steht diese Person? Abgebildete, die echte Geschichten zu erzählen haben, die Risiken eingehen oder sich selbst in irgendeiner Weise aufs Spiel setzen, sind ideale Motive für ein Cover. Inklusivität ist für diese Bemühungen von entscheidender Bedeutung." Aber Inklusivität scheint nur dann willkommen, wenn sie sich gut verkauft - wie jetzt gerade.
Von 2000 bis 2005 gab es drei Schwarze Models von insgesamt 81 Models auf dem amerikanischen "Vogue"-Cover zu sehen, das ergab eine Recherche von "The Pudding“. Mit Hilfe eines Analyse-Tools bestimmte das Online-Magazin die Gesichtsfarbe der 262 weiblichen Cover-Looks der letzten 19 Jahre des Magazins und visualisierte sie in farbigen Punkten.
Das Ergebnis fällt nicht sehr überraschend zum Vorteil der hellen Farbtöne aus. Wenige sehr dunkle machen den linken äußeren Rand des Feldes aus, die Crux hierbei: sie gehören alle zu Schauspielerin Lupita Nyong’o. "Wenn wir genau hinschauen, ist klar zu sehen, dass der Großteil der Schwarzen Frauen eigentlich hellhäutig sind (und sie auf dem Cover dunkler gemacht wurden) und der Großteil der dunkelhäutigen Frauen nur eine Person sind," schreibt "The Pudding". Condé Nast betreibe "Tokenism". So nennt man es, wenn eine Organisation nur ein oder zwei Mitglieder einer unterrepräsentierten Gruppe einsetzt, um ein Mindestmaß an Vielfalt zu erreichen.
Fünf mal Rihanna als Coverstar
Rihanna etwa wurde fünf Mal für das Titelbild der US-"Vogue" abgelichtet, mit fünf verschiedenen Hauttönen. Die meisten davon vermutlich heller, als ihre wahre Hautfarbe - die "Vogue" ist bekannt fürs "Whitewashing“. Immer wieder kommt Kritik auf, wenn Schwarze Coverstars nachträglich einen helleren Hautton verpasst bekommen. In 125 Jahren engagierte das Magazin übrigens nur einen einzigen Schwarzen Fotografen, Tyler Mitchell, für das September-Cover mit Beyoncé im Jahr 2018.
Das alles zeigt: Die "Vogue" hat ein Problem, schon lange. Doch zum Skandal wurde es, getriggert von dem Mord an George Floyd, als im Juni 2020 auch innerhalb des Verlages immer mehr Diskriminierungsvorwürfe laut wurden. Condé Nast wurde angeprangert, Diversität sei weder am Arbeitsplatz noch im Inhalt seiner Magazine gefördert worden, zwei Redakteure wurden gefeuert, da sie sich rassistisch verhalten hatten, frühere Angestellte erzählten von Angst und Diskriminierung am Arbeitsplatz, wie Lohnunterschieden aufgrund von Hautfarbe. Anna Wintour, neben "Vogue"-Chefredakteurin auch Chief Content Officer des ganzen Verlags, entschuldigte sich und übernahm vollste Verantwortung. Sie habe nicht genug zugehört und Schwarzen Kreativen zu wenig Platz gegeben. Und das, obwohl sie über 30 Jahre lang Zeit dazu hatte.
"Wir sind hier nicht CNN, aber haben Verantwortung"
"Inklusion ist ein Gemütszustand und die Verantwortung von jeder einzelnen Person in dieser Industrie,“ sagte damals Tiffany Reid, die Vizepräsidentin der Modeabteilung der Bustle Digital Group. Und ein paar Schwarze Covermodels nach diesen Offenlegungen reichten nicht, seien unglaubwürdig und basierten nicht auf grundlegenden Veränderungen. Im April diesen Jahres veröffentliche "WWD" einen Artikel über "Diversity Reports“, die die drei größten Verlage für Publikumszeitschriften in den USA, Meredith, Hearst und Condé Nast, erstmals öffentlich gemacht hatten. Bei Meredith, der unter anderem "InStyle" und das "People Magazine" herausbringt, identifizierten sich 77 Prozent des Personals als Weiß, sieben Prozent Schwarz und sechs Prozent Hispanic. Im Verlagsvorstand sitzt eine PoC. Bei Condé Nast identifizierten sich 68 Prozent als Weiß, zehn Prozent als Asiatisch und 7,5 Prozent als Schwarz. Auf der Führungsebene sagten 77 Prozent von sich, Weiß zu sein. Bei Hearst, wo unter anderem "Elle" und "Harpers Bazaar" erscheinen, identifizierten sich 73 Prozent der Belegschaft als Weiß, acht Prozent Schwarz, acht Prozent als Asiatisch. Und auch diese Ergebnisse überraschen nicht. Die Verlage versprechen Besserung, wollen bei Neueinstellungen 50 Prozent der Posten mit PoC besetzen, bieten Training gegen unbewusste Voreingenommenheit an.
"Nicht jeder Teil der Mode muss sich mit Politik und Realität befassen - wir sind hier nicht bei CNN - aber letztendlich haben wir alle eine gewisse Verantwortung", sagt das Model Paloma Elsesser. Sie war ebenfalls auf der Januar-Ausgabe 2021 der amerikanischen "Vogue" zu sehen. Und auch dieses Cover wurde als etwas Neues, eine Wende gefeiert, denn Elsesser ist Plus-Size-Model und als eines der ersten davon international erfolgreich. Sie wird für Laufstege, Kampagnen und Magazintitel gebucht. Sie fühle sich geehrt, dass sie die Gelegenheit habe, das zu tun, was sie tut, sagte Elsesser der "Vogue", "aber es fühlt sich auch wie etwas an, das hätte existieren sollen, lange bevor ich damit angefangen habe.“
Sind wir heute am Anfang oder schon wieder am Ende des Wandels der Modewelt? Hat er überhaupt schon so richtig begonnen, oder ist das alles nur ein geduldiges Abwarten, bis es wieder zurück zum Standard-Model geht, das wie eine leere Leinwand immer wieder etwas anderes sein soll? "Solange der Kapitalismus nicht wirklich abgeschafft wird, um ein inklusiveres System einzuführen, werden Konzerne ihre unethische und heuchlerische Reise fortsetzen, wenn es um Nachhaltigkeit und Antirassismus geht," schrieb die Autorin Bashirat Oladele. Im Moment sieht es also aus, als sollte man eine Zeitschrift lieber nicht nach ihrem Titelblatt beurteilen.