Manchmal bewirkt ein T-Shirt mehr Aufmerksamkeit als jede Kunstaktion. Weil das Kleidungsstück so gewöhnlich ist, dass eine Forderung, die man darauf zu lesen bekommt, plötzlich ganz unerhört klingt. Weil diese Forderung so naheliegend, eigentlich lächerlich selbstverständlich erscheint und trotzdem in all den Solidaritätsbekundungen virtuell und auf den Straßen quasi nicht vorkommt. "STAND WITH AFGHAN WOMEN" prangt auf dem Shirt, das Sara Nabil vor einer ihrer Arbeiten zeigt, die sie im Frühsommer in der Kunsthalle Mannheim präsentiert hat, und rechts daneben: "SAVE THE LIVES". Die Ausstellung war auch als Rückeroberung zu verstehen – eine Rückeroberung des weiblichen Körpers, der in Afghanistan gerade zum Verschwinden gebracht wird. Das T-Shirt trug sie zur Eröffnung.
Die junge Künstlerin, die im nächsten Jahr ihren Abschluss an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung machen wird, ist 2015 aus Afghanistan geflohen. Sie begreift sich als Künstlerin und Frauenrechtlerin und mag beides nicht voneinander trennen: "Für mich ist Aktivismus auch in meiner Kunst sehr präsent." Durch Kleidung bringt sie beides zusammen. "Ich trage etwas, das ich jeden Tag tragen kann – eine Botschaft, ein Statement. Protest ist Alltag." Viele Afghanen hätten nach der Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr alles verloren. Frauen aber, so formuliert es Nabil, seien komplett aus der Gesellschaft entfernt worden. "Sie existieren nicht mehr." Ihre Botschaft sieht sie als selbstverständlichen Universalismus. "Wir brauchen die Solidarität, gerade jetzt. Die ganze Welt hat die afghanischen Frauen vergessen." Dabei demonstrieren viele ihren ausgesprochenen Mut und kämpften für ihre Rechte, oft zahlten sie mit ihrem Leben. Menschenrechtsverletzungen und Vergewaltigungen seien jetzt an der Tagesordnung, berichtet Sara Nabil.
Nabil macht sich keine Illusionen. Fast verständnisvoll spricht sie von politischen und wirtschaftlichen Sachzwängen. Die Politik tue eben, was gerade aktuell anstehe. Und da gebe es tatsächlich reichlich aktuelle Krisenherde. Mediale und kulturelle Aufmerksamkeitsökonomien folgen oft ebenfalls eingetretenen Pfaden. Trotzdem freut sich Sara Nabil über punktuelle, aber laute Unterstützung: "Viele Frauen, Feministinnen überall auf der Welt, zeigen Solidarität." Dass die Welt jetzt nach Iran schaue, wo Frauen auf den Straßen für ihre Rechte und gegen die Sittenpolizei demonstrieren, sei sehr gut. "Wir schauen sehr darauf, was gerade in Iran passiert. Wir kämpfen alle für das Gleiche." Und doch falle natürlich auf, dass auf der derzeitigen UN-Vollversammlung in New York niemand von dem Mut der afghanischen Frauen spreche. Das sei schon ein wenig schmerzhaft. Dabei will Nabil diesen Unterschied am liebsten selbst gar nicht aufmachen: "Ich glaube nicht an Nationalität. Sie ist mir egal." Und trotzdem entscheidet sich natürlich an Nationalitäten, wessen Anliegen Aufmerksamkeit bekommen. Vielleicht ergibt sich ja in diesen Tagen und Wochen ein Momentum, das die Kämpfe von Frauen für ihre Rechte und für ihr blankes Überleben, in Iran, Afghanistan, der Ukraine gemeinsam in den Fokus rückt.
Universelle Werte
Manchmal ärgert es Nabil, wenn der Westen – ein Begriff, den sie nicht mag, der auch vom iranischen Regime wie den Taliban als Markierung des Anderen verwendet wird, um Proteste zu ersticken, aber den sie hier behelfsmäßig verwendet –, aus weiter Ferne auf dieses Land blickt und die Frauen in Afghanistan schon qua Naturgesetz als nicht gleichberechtigt betrachtet. "Das finde ich arrogant. Wir haben erst mit unseren Familien für unsere Rechte gekämpft, dann auf gesellschaftlichen und politischen Ebenen. Es gibt eine ganze Generation, die in dieser Freiheit aufgewachsen ist. Sie glaubt an die Menschenrechte. Sie glaubt nicht, dass diese Rechte ein importierter Wert sind. Ein Menschenrecht ist ein Menschenrecht." Nabil selbst ist in einer liberalen Familie groß geworden. Ihre Erfahrungen im eigenen Zuhause weckten in ihr den Wunsch, sich für andere Frauen zu engagieren. "Für mich sind Menschenrechte und Freiheit immer noch universelle Werte. Nichts, das der Westen für sich allein beanspruchen kann," sagt Nabil. Das, sagt die Künstlerin, sei "kulturelle Bevormundung".
Sie weiß, dass Kabul nicht das gesamte Land repräsentiert. "Es gibt 34 Provinzen, viele Ethnien, jede hat bestimmte kulturelle Werte und Vorstellungen. Natürlich gibt es patriarchale Strukturen, insbesondere in den dörflichen Regionen." Insgesamt sei Afghanistan eine sehr traditionelle Gesellschaft. Und trotzdem ist sie sicher, dass keine Frau, die in Kabul oder andernorts zuvor relativ frei leben konnte, nun gern zwangsverschleiert auf die Straße geht. Vom Ausschluss aus Beruf, Schule und Hochschule zu schweigen. "Welche Frau sollte das wollen, wenn sie am normalen Leben teilnehmen möchte? Jetzt ist es ja Gesetz."
Wo schon die existenziellen Bedrohungen, denen die Menschen vor Ort täglich ausgesetzt sind, kaum durchbrechen in die Tagesnachrichten, da wird über das kulturelle Leben in Kabul sowieso nicht gesprochen. Aber vielleicht liegt hier doch ein guter Seismograf für die allgemeine Lage im Land. "Ich sage immer – und das ist sehr, sehr schmerzvoll, das so auszudrücken –: die Kunstszene ist komplett tot in Afghanistan. Wir verlieren gerade alles." Nabil vermutet, dass auch das kulturelle Erbe im Land weiter zerstört werde. Aus finanziellen oder ideologischen Gründen oder beides. "Gleichzeitig können vielleicht maximal 50 Prozent oder weniger aller bedrohten Künstlerinnen und Künstler das Land verlassen." Es gebe Tausende, die immer noch in Afghanistan seien und auf die oftmals bereits zugesagte Ausreise warteten. "Jeder Tag ist für sie wie ein Todesurteil. Wenn sie gefunden werden, werden sie bestraft – im besten Fall Gefängnis, im schlimmsten Fall bringen die Taliban sie um.“ In den Nachbarländern wie Pakistan sei es auch nicht sicher.
Permanentes Dazwischen
An dieser Stelle lohnt ein kleiner Exkurs. "Sie warten noch immer", hieß es an dieser Stelle über Kulturschaffende in Afghanistan, von denen viele akut bedroht sind, im Januar. Wie sieht die Lage heute aus? "Die im letzten Jahr eingereichte Liste des Kunstvereins Wiesbaden mit etwa 390 Personen hat viele Schutzzusagen erhalten", erklärt der Berliner Rechtsanwalt Michael Mai, der sich gemeinsam mit mehreren Gruppen und Einzelpersonen für die zurückgelassenen Kulturschaffenden engagiert. Auch konnten die im Text angesprochenen Nachlistungen "in besonders akuten Fällen, wie etwa nach brutalster Auspeitschung, erreicht werden." Vor allem die beteiligten Referate des Auswärtigen Amtes hätten dabei gute Arbeit geleistet. Ein großes Problem, auch finanziell, stellten aber noch immer die hierzu nötige Pass- und Visabeschaffung dar.
Hinzu kommt, dass nicht einmal die bestehenden Zusagen – die freilich erst noch umgesetzt werden müssten – in Stein gemeißelt sind: "Das seit Monaten in der Diskussion stehende Bundesaufnahmeprogramm bereitet mir Sorgen, soweit die Daten für eine Listung erneut eingegeben werden müssen und dazu nur NGOs vorschlagsberechtigt sind", sagt Mai. Unklar sei nämlich noch immer, welche NGOs hieran konkret beteiligt würden. Ob diese dann überhaupt Kontakte zu Kulturschaffenden vor Ort haben, steht nochmals auf einem anderen Blatt. Es fehle für den Bereich der Kunst und Kultur bisher an klaren Strukturen sowie an personellen und auch finanziellen Ressourcen, fasst Mai zusammen.
Viele der seit über einem Jahr aktiven Gruppen und Einzelpersonen seien deshalb im engen Austausch, um Lösungen für das Listen im kommenden Aufnahmeprogramm zu finden. Ein Patentrezept sei bisher nicht gefunden worden. "Nach meiner persönlichen Auffassung ist der Bereich Kultur im Zuge des gesellschaftlichen Austauschs der Bundesregierung mit NGOs für die Erarbeitung des Programms in keiner Weise ausreichend einbezogen worden." Wenn man es weniger elegant ausdrücken möchte, müsste man feststellen: Kunst- und Kulturschaffende wurden schlichtweg vergessen. Sara Nabil kann ähnliches berichten. "Ich bin mit zwei großen Communities in Kontakt – Künstlern und Frauenrechtlerinnen. Es gibt viele, die noch warten, sie stehen auf der Liste."
Reise ohne Rückkehr
Nabil lebt und arbeitet jetzt seit sieben Jahren in Europa. Als sie zu einem Vortrag an einer Kunstakademie in den Niederlanden eingeladen wurde, ergriff sie die Gelegenheit und beantragte vor Ort Asyl. Das war im Februar 2015. Im Jahr zuvor hatte sich die Sicherheitssituation in Afghanistan weiter verschärft. "Jeden Tag sind Leute, die politisch, kulturell, sozial aktiv waren, bedroht worden von den Taliban", erzählt Nabil, zu diesem Zeitpunkt gerade Anfang 20. Als Künstlerin und Frauenrechtlerin sei sie doppelt gefährdet gewesen. Eines Tages sprengte sich ein Anhänger der Taliban vor ihren Augen in einem Theater in die Luft. Das war der endgültige Schlusspunkt. "Ich musste das Land verlassen – irgendwohin, wo ich etwas machen kann. Wo meine Stimme nicht für immer verstummt." War ihr zum Zeitpunkt der Flucht bewusst, dass sie nicht mehr zurückkehren würde? Sara Nabil verneint. Natürlich habe sie immer gedacht, irgendwann noch einmal zurückzukommen. Jetzt, wo die Machtübernahme der Taliban besiegelt ist, glaubt Nabil nicht mehr daran.
Gerade bespielt sie den Heussenstamm Raum für Kunst und Stadt in Frankfurt, als Erzählung eines Lebens im permanenten Dazwischen. Die Arbeit ist Teil der diesjährigen Tage des Exils mit der iranstämmigen Künstlerin Parastou Forouhar als Schirmherrin. In einer zugehörigen Mehrkanal-Videoarbeit tigert Nabil unentwegt von einer Bildschirmecke zur anderen, quer durchs raumlose, schattenlose Weiß. "Life without Shadow“ hat die Künstlerin ihre Installation genannt, der Name ist Programm. Zur Eröffnung schreitet sie durch eine Tür, die in der Mitte des Raumes aufgebaut steht, als Trennmarker zweier Fotoversionen ihrer selbst, die jeweils links und rechts davon an der Wand angebracht wurden. An diesem Tag trägt die Künstlerin ein weiteres, selbstgemachtes T-Shirt: "Recognizing a terrorist regime is terrorism."