Mr. Rogers war der erste Mann, vor dem ich mich nicht fürchtete. Und er ist bis heute mein Idol. Ich war damals ein kleiner Junge, und es war Mitte der 1960er-Jahre, in Neuengland. Ich erinnere mich an das alte, rotangestrichene Farmhaus und die Holzkiste vor den Garagen. Da war das Maisfeld, das mein Zwillingsbruder und ich in Brand gesteckt hatten. Dahinter der Wald, in den man nie alleine gehen durfte, weil er so wild und schier endlos war. Am deutlichsten aber erinnere ich mich die Schwarz-Weiß-Bilder einer Kindersendung: "Misterogers", die im regionalen Bildungsfernsehen an der Ostküste lief. Später sollte sie als "Mr. Rogers' Neigbourhood" in den ganzen USA berühmt werden.
Die Sendung fing immer gleich an. Die Kamera zeigt aus der Vogelperspektive das Modell einer ur-amerikanischen Kleinstadt, mit Main Street, kleinen Bäumchen und weißen Zäunen und schwenkt auf das Häuschen von Mr. Rogers. Jazzige Piano-Musik setzt ein. Er kommt nach Hause, singt den Song:"Won't You be My Neighbor?" Du spürst, dass er dich meint: "It's a beautiful day in this neighborhood / A beautiful day for a neighbor / Would you be mine? / Could you be mine … Please won’t you be my neighbor?" Während er singt, zieht Mr. Rogers seinen Mantel aus, die von seiner Mutter gemachte Strickjacke an und schlüpft in seine Sneaker.
Er redete dabei, als ob man schon mit ihm im Wohnzimmer säße: Na, wie klappt es denn so mit dem Schleifenbinden? Und dann unterhielt er sich mit den Kindern im Studio, mit verschiedenen Handpuppen und uns vor dem Fernseher über alltägliche Dinge, über Gefühle, wenn man traurig ist oder froh, Angst hat, über Lieblingsessen, Farben, Einsamkeit, Freundschaft, Streit und Trauer. Er sprach über Armut, Alter, Scheidung, Krieg, in einer Zeit, wo keiner auf die Idee gekommen wäre, so etwas mit Kindern zu besprechen. Er sprach über kleine Sachen, die für mich wirklich wichtig waren – zum Beispiel die Angst, ins Klo gespült zu werden. Um uns Mut zu machen, tat er etwas geradezu Schockierendes. Er zog einen Schuh und die Socke aus, krempelte die Hose hoch, stellte den Fuß in die Toilette und betätigte die Spüle. Ganz pragmatisch. Na seht ihr? Das hat mich beruhigt.
Radikales Fußbad
Fred Rogers, dessen Geschichte mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt wurde, war eine vordergründig eher konservative, strebsame Gestalt. Er sah aus, als hätte der Pfadfinder-Maler Norman Rockwell einen American dad erfunden: ein eingetragener Republikaner, ehrenamtlicher presbyterianischer Priester, überzeugter Christ, Nichtraucher, Vegetarier, Anti-Alkoholiker. Er stand jeden Morgen zwischen 4.30 und 5.30 Uhr auf, betete, las die Bibel und schwamm. Sein Gewicht hielt er fast sein gesamtes Erwachsenenleben auf 65 Kilogramm, nie war er seiner Frau untreu. Er war völlig "normal", nur, dass er ohne Machismo war, sich hintenanstellte, total "unmännlich" über Liebe, Mitgefühl, Community sprach.
Mr. Rogers zog aus seiner Geschichte, seinen Moralvorstellungen, seiner Spiritualität, eine radikale, inklusive Kraft. Seine Hits hießen "It’s you I like" und "I like you just as you are", und gemeint waren damit alle Hautfarben, alle Gesellschaftsschichten, Menschen mit Behinderung, sexuellen oder kulturellen Identitäten. 1969 kam es zum Eklat, als er in einer Sendung seine Füße in einem aufblasbaren Pool kühlte und den "freundlichen Polizisten" Officer Clemmons, der Schwarz ist, einlud, doch auch seine Füße ins Wasser zu tunken. Als Clemmons entgegnet, er habe kein Handtuch dabei, teilt er es mit ihm. Damals war die Rassentrennung in öffentlichen Bädern zwar aufgehoben, aber es kam immer wieder zu Protesten und Angriffen durch Weiße, die auch schon mal Wäschebleiche in Pools kippten, in denen Schwarze Kinder schwammen.
Hinzu kam, dass der Schauspieler, der Offizier Clemmons spielte, auch schwul war, was Mr. Rogers wusste. Die Fußwaschung war natürlich eine Anspielung auf Jesus, der sich nach dem letzten Abendmahl niederkniet und jedem seiner Apostel die Füße wäscht – als Geste der Demut und Gleichheit. Alles in Mr. Rogers' Neighborhood war bescheiden, ohne Schickschnack: seine schlichten Klamotten, die fast ärmliche Kulisse, die improvisierten Verkleidungen. Wir Kinder liebten das.
Working-Class-Bär mit Meme-Potential
Warum beschäftigt mich das gerade jetzt? Einmal, weil diese Figur des pragmatischen, freundlichen Nachbarn, des American dad, der jagt, in die Kirche geht, dir hilft, das Auto zu reparieren, aber eine progressive, "linke" Agenda hat, gerade ein politisches und popkulturelles Phänomen ist. Weil sich eine Änderung der Debattenkultur ankündigt.
Seitdem Joe Biden seine Kandidatur zurückzog und Kamala Harris, die neue Präsidentschaftskandidatin, den Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, zu ihrem running mate und dem potentiellen Vize-Präsidenten erklärte, surfen die US-Demokraten auf einer Welle von Begeisterung und Einigkeit. Walz war derjenige, der das Wort weird für Trump und seinen Vize-Kandidaten Vance und die ultra-rechte MAGA-Crew fand. Er war derjenige, der sie als Freaks abkanzelte, die mit Abtreibungs- und Verhütungsverboten, Frauenhass, Rassismus, Beschneidung von Bürger-, LGBTQI- und Wahlrechten das Thanksgiving-Essen der "normalen" Bürger versauen.
Walz hatte für ihre Versuche, die Freiheit anderer einzuschränken, einen weiteren Slogan parat: "Mind your own damn business". Als Gouverneur hat er unter dem Motto "Let’s get shit done" in Minnesota eine Menge umgesetzt: Schutz von Abtreibungsrechten und medizinischer Versorgung von Frauen, die Legalisierung von Cannabis, kostenloses Schulessen, Elternzeit, strengere Waffengesetze mit Background-Check. Walz, der selbst Waffenbesitzer, Jäger und small town boy ist, stammt aus dem Mittleren Westen. Er ist kein Rechtsanwalt, diente 24 Jahre in der Nationalgarde, war Lehrer und Football-Coach. Er hat nicht nur gute Verbindungen zu Gewerkschaften, sondern auch Humor und Biss. Er bietet anderen Leuten seinen Platz im Bus an. Ihn kann man schlecht als radikalen Linken abstempeln. Ein Geschenk für die bis dato völlig zerstrittenen Demokraten, die ihn als großen Versöhner feiern, nicht nur für die Partei, sondern das ganze Land.
Der vorher kaum bekannte Politiker wurde auch durch virale Memes und große Medienpräsenz innerhalb von Wochen zum Star, zum weißen Working-Class-Sidekick der Schwarzen, supergebildeten, erfolgreichen West- Coast-Politikerin Harris, die für viele die alte liberale demokratische Elite, gebildete wokeness und die Macht der großen Corporate-Spender verkörperte. Walz spricht auch eine andere, viel warmherzigere, verständliche, trotzdem nicht vereinfachende Sprache. Er wirkt wie ein Mr-Rogers-Working-Class-Bär. Schon bei den ersten Wahlkampfveranstaltungen löste das regelrechte Masseneuphorie aus.
Der erste honeymoon könnte vielleicht schnell vorüber sein, weil drängende Themen wie die Rolle der USA im Gaza-Krieg und die Fragen nach Migration und Grenzschutz noch gar nicht diskutiert wurden. Bislang war da nur Harris, die auf einer Wahlkampfveranstaltung die Zwischenrufe einer pro-palästinensischen Aktivistin mit den Worten konterte: "Wenn du Trump wählen willst, sag es. Ansonsten rede ich jetzt." Das Totschlagargument war interessant. Die Euphorie hängt natürlich nicht nur mit einer neuen Sympathie für die vorher ziemlich unbeliebte Harris zusammen. Sondern auch mit der Angst vor Trump, seiner Drohung Millionen von auch muslimischen Menschen zu deportieren, der Ahnung, dass er Netanyahu und Putin noch mächtiger machen und Rassismus und Islamophobie im eigenen Land schüren wird. Natürlich wäre es fatal, Harris aus Protest nicht zu wählen und Trump als Diktator an die Macht zu lassen. Aber reicht Angst als Wahlkampfargument aus?
Eine klassische Mr-Rogers-Idee
Dabei soll die Nominierung von Walz genau mit dieser Angst Schluss machen, etwas ganz anders, Inklusives signalisieren. Auch wenn sich herausstellt, das alles beim Alten bleibt, dass es nur ein Marketing-Gag war, bietet dieser Moment wirkliches Potential. Nämlich die Abkehr von den ewigen, immer bizarrer werdenden Debatten um Hautfarbe, Gender, Identität, wokeness, die nicht von links, sondern von rechts kommen, um Gesellschaften zu spalten, Ängste und Gewalt zu schüren und von dem eigenen Mangel an politischen Ideen abzulenken. Auch in Deutschland möchte man kotzen, angesichts der ewigen "Man wird doch mal sagen dürfen"-Diskussionen, Berichten über non-binäre Hamas-Liebchen und woke "Klimakleber" aus der großen, dekadenten Stadt.
Walz soll für die Sachen stehen, die die Mehrheit der Bevölkerung, sowohl die working families, auch deine nicht versicherte trans Tante wirklich betreffen: bezahlbares Wohnen, Bekämpfung von Armut, soziale Gerechtigkeit, Sanierung des Bildungssystems, bessere Gesundheitsversorgung, Sanierung des Nahverkehrs, der gesamten Infrastruktur. Walz beschwört im Wahlkampf eine linke Utopie, die der Neoliberalismus als wahnsinnig erachtet: nämlich, dass wirklich alle Anspruch auf ein sicheres Leben, auf Glück oder Zufriedenheit haben, nicht nur einige wenige, ähm, Superreiche.
Er formuliert mit dem Motiv der "Nachbarschaft", der "Community", die einander hilft, zusammen feiert, die klassische Mr-Rogers-Idee. Ein Gegenbild zu dem fest verankerten Glauben, dass es immer jemandem anderen schlecht gehen muss, damit man selbst es gut hat, zur Vorstellung, dass Sündenböcke geopfert und Hexen verbrannt werden müssen, damit es einem selbst gut geht. Er kontert mit seinem pragmatischem Dad-Optimismus den Todesfantasien und der toxischen Männlichkeit der extremen Rechten, die die westliche Zivilisation am Boden sehen, Blut fließen lassen wollen und wie Elon Musk völlig ungerührt twittern "Bürgerkrieg ist unvermeidbar".
Leute, die tun, was sie sagen
Womit wir beim zweiten Punkt sind, der mich an die Nachbarschaft von Mr. Rogers erinnert: den rassistischen, ultrarechten Ausschreitungen in Großbritannien, bei denen Hooligans, Hausfrauen, Teenager versuchen, Geflüchtete lebendig in Hotels zu verbrennen, Läden und Moscheen attackieren, nicht-weiße Menschen beschimpfen, bespucken, fast zu Tode prügeln. Neulich sah ich ein Reel von Ashnar Sarkar, einer linken Kommentatorin bei Novara Media, die bengalische Wurzeln hat. Die Frau ist bei der britischen Rechten verhasst, bekommt Morddrohungen, ist wirklich alles gewohnt. Doch diesmal war ihre Stimme angesichts der unfassbaren Gewalt zitterig. "Ich stelle mir die Frage, die sich gerade people of color im ganzen Land stellen: Wie sicher sind wir hier noch? Wie stark sind wir durch Zugehörigkeit verbunden, wie stark ist der Konsens, dass wir eine gemischtrassige, multikulturelle Gesellschaft sind. Sind diese Bande stark genug, damit wir in Sicherheit sind? Zum ersten Mal weiß ich es nicht mehr."
In Großbritannien, wo gerade Tausende in ihrer Stadt, ihrem Kiez auf die Straßen gehen, sich den Nazis physisch in den Weg stellen, sieht man gerade, wie lebenswichtig Nachbarschaft ist, und wie pragmatisch das funktioniert. So pragmatisch wie die "Omas gegen Rechts", der Lehrer, der dir unerwartet eine Chance gibt, die mürrische Krankenschwester, die sich nachts zu dir ans Bett setzt und deine Hand hält, die Nachbarin, die mit dir aufs Amt geht, der Passant, der dich beschützt, die alte, schwierige Freundin, die trotz Depressionen kommt und eine Suppe kocht, wenn du krank bist oder deine Welt zusammenbricht. Jeder kennt diese Situationen, in denen man Hilfe braucht, die lebensentscheidend sein können. Und die Menschen, die unerwartet helfen, sind oft nicht glitzy und glamourös, sind nicht die, die es groß ankündigen, sondern Leute, die ihre schlecht bezahlten Jobs machen, die sich aufraffen, sich stärker verantwortlich fühlen als die Freunde, von denen du es erwartet hast. Es sind Leute die tun, was sie sagen.
Beetlejuice und die Cat Ladies
Womit wir wieder bei dem Wort weird sind, das Tim Walz eingeführt hat. Das Wort meint , "schräg" und "unheimlich", "völlig durchgeknallt". Und sicher meint Walz den Beetlejuice-Look von Trump, seine stundenlangen, unzusammenhängenden Monologe, seine Lügen, seine immer pubertärer werdenden Spitznamen wie "Kamabla" oder "Tampon Tim". Er meint damit auch das Make-up von JD Vance, der mit seinen Kajal-Augen aussieht wie ein schwuler Goth-Waschbär in einer 80’s-Disco. Oder die von ihm kolportierte Story, Amerika würde von Corporate-Oligarchen und kinderlosen "Cat Ladies" regiert.
Weird heißt aber noch viel mehr: dass diese Leute nicht tun, was sie sagen, nicht das sind, was sie vorgeben. Trump, der als Billionär sagt, er will der vergessenen Arbeiterklasse helfen, und sich nur selbst hilft. JD Vance, der mit "Hillbilly-Elegie" 2017 einen Bestseller über das Leben der weißen Unterschicht schrieb, ist kein Working-Class-Typ, sondern ein Venture-Kapitalist, der komplett vom rechten Milliardär Peter Thiel finanziert wurde. Sie sind nicht authentisch. Sie tun nichts für die Nachbarschaft, sondern kannibalisieren sie.
Das mit dem "Authentischen" ist im Zeitalter von absolutem Starkult und KI so eine Sache. Aber vielleicht kann man im Nicht-Authentischen authentisch sein, sich realistischer beobachten. Die Frage, wer man tatsächlich ist, wo man steht, was man wirklich tut, hat viel mit der Klasse zu tun. Sie ist auch für die Demokraten verfänglich. Aber, wenn man es nicht völlig pessimistisch sieht, hängt sie mit dem Wunsch sehr vieler Menschen nach wirklicher Veränderung, praktischer Hilfe, tatsächlicher Kommunikation, wirklicher Gemeinschaft zusammen. Die Idee der Nachbarschaft, die einfache Erkenntnis, dass wir zu einer Infrastruktur gehören, dass wir zusammen daran arbeiten müssen, um einander zu retten, ist überlebenswichtig.
Kunstbetrieb: Infrastruktur für Leistungsträger
Das sollte inzwischen auch in der Kunstwelt und den Institutionen klar sein. Wenn es hier losgeht, muss da eine Infrastruktur sein, die wirklich hilft, nicht nur performt, Posten sichert oder Marketing macht. Da muss eine Tür offen sein, jemand der "Halt!" sagt und nicht erst lange überlegt, ob man nicht jemanden verärgert. Die rechte Gewalt in England bietet geradezu die Blaupause für die Rechten im Umfeld der AfD. Und genau wie die britische Regenbogenpresse hat hier die "Bild" den Hass auf Migranten endlose Jahre geschürt. Genau wie Friedrich Merz mit seinen Geschichten über Geflüchtete, die mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer kommen, um sich die Zähne machen zu lassen. Christian Lindner, der von "Trittbrettfahrern" spricht und Bürgergeldempfänger härter kontrollieren will, weitet dieses gehässige Herabsehen auf andere noch weiter auf Arme und Bedürftige aus, die dann sicher auch eine Bezahlkarte bekommen. Wie schon Maggie Thatcher postulierte, ist Armut nicht systemisch, sondern selbst verschuldet, die Leute einfach faule Schmarotzer.
Das entspricht der Ansicht, dass Leute die "Leistungsträger" sind, also Merz oder Lindner, selbst ihre Privilegien durchaus verdient haben. Das findet auch der Kunstversicherer Stephan Zilkens in seinem aktuellen News-Blog. Darin ärgert er sich über das öffentlich-rechtliche Fernsehen, dass in Sendungen wie "Monitor" den bösen Reichen noch die Mitschuld am Rechtsruck in den Neuen Bundesländern gibt und seiner Meinung nach "unter dem Deckmantel der Objektivität versucht, Emotionen gegen Leistungsträger des Systems zu schüren." Er schlägt vor, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk "als Konstrukt in Frage zu stellen". Da liegt er ja voll auf der Linie mit der AfD, die auch keine GEZ mehr zahlen möchte. Könnte man auch sagen: Ganz schön weird.
Dasselbe gilt für eine Kunstelite in Berlin, die Themen wie Migration, Klima, Dekolonialisierung, Gender oder Feminismus vermarktet, Aufmerksam und Geld damit generiert, aber mit Leuten wie Elon Musk feiern geht. Ich finde das weird. Genauso wie die Gespräche, die ich höre, bei Essen von Leuten, die denken: Weil sie geerbt haben und Kunst sammeln, seien sie Experten für alles, die zu jedem Dreck eine Meinung und Expertise haben. Leute die Walfischgesänge hören oder Designer unterstützen, die aus recycelten Plastikflaschen was Hübsches machen, oder "Arts of the Working Class" auf ihrem Coffee Table liegen lassen und dann denken sie sind Aktivisten. Weird.
"Kunst verändert vielleicht dein Leben, aber nicht die Welt", sagt Jeremy Deller in einem Video auf dem Kanal des dänischen Louisiana Museums. "Wenn Kunst so viel verändern kann, warum ist die Gesellschaft dann noch immer in diesem beschissenen Zustand?" Er erzählt, dass er auf unzähligen Dinners mit Superreichen war, die sagten: "Ihr Künstler seid geradezu übermenschlich, ihr verändert unser Leben". Das sind Leute, die buchstäblich Millionen und Milliarden haben, sagt Deller, die tatsächlich die Welt verändern könnten, wenn sie wollten. "Sie könnten das Leben der Menschen besser machen. Aber meistens sammeln sie nur Kunst. Sie kaufen Kunst und noch mehr Kunst. Vielleicht sollte ihr Geld woanders hinwandern. Dass Superreiche sich so auf die Künstler verlassen, ist unfair. Sie sollten genauso ihren Anteil leisten." Was soll das Wissen der Ahnen, die Auseinandersetzung mit indigenem Wissen und Kolonialismus nutzen, wenn es keine politischen, praktischen Konsequenzen hat? Die Welt ist nicht nur kaputt, weil wir den Kontakt zur Erde, zu Pachamama und dem Wissen der Ahnen verloren haben.
So entstehen Beziehungen
Genau darum geht es, ganz praktische Hilfe vor Ort, in deiner Nachbarschaft, die Stärkung von Museen, Sozialprogrammen und Bildungsprogrammen, mit neuen Angeboten, die wirklich etwas bewegen. Es laufen auch hier Kinder rum, die ein Mittagessen und Ansprache brauchen würden. Um diese Angebote zu entwickeln, sind Ausdauer und Liebe nötig, echte Beziehungen, die mehr als eine Amtszeit oder einen Job brauchen, um sie aufzubauen. Dafür fehlt Zeit und Geld. Wir brauchen eine neue Sprache in der Kunst, die mehr Menschen erreicht.
Wer heute in Museen geht, wird mit dringlichen Themen konfrontiert, zu denen es entweder kurze Wandtexte mit Schlagworten oder superspezifische, akademische Kataloge gibt. Dass fast niemand mehr diese Sachen liest, keiner diskutiert, hängt auch an der Art und Weise, wie lieblos und exklusiv das abgehandelt wird. Weird. Wenn meine indigene trans Tante für drei Monate zu Besuch kommt, verändert das mein Leben, mein Denken, auch das meiner Nachbarn. In Institutionen geht sie wieder, ohne wirklich mit jemandem gesprochen zu haben, dann wird alles umgeräumt, dann kommt die nächste Tante. Ein Kind sagte mal über Mr. Rogers, es könne doch nicht vom Fernseher weggehen, mit wem solle sich dann Mr. Rogers unterhalten? So müsste es auch in Museen sein, dass die Leute das Gefühl haben, dass es das Gegenüber interessiert, was sie sagen. So entstehen Beziehungen.
All diese Sachen sind nicht so sexy wie Kunst verkaufen oder tolle Projekte mit Stars oder die High-End-Fashion, die man anderen Power-Tanten vorführen kann. Aber jetzt, wo der Nachbarschafts-Daddy das Vorbild wird, wo Leute immer mehr Gewalt, Hass, Gleichgültigkeit ausgesetzt sind, es sicher schlimmer wird, muss sich das ändern. Man möchte nicht mehr dieses affirmative Gelaber hören, mit dem in der etablierten Kunstszene Nachbarschaft und Empathie behauptet werden. Man möchte nicht mehr Teil eines Kunstsystems sein, das sich mehr oder minder als autonome Infrastruktur für Leistungsträger versteht und auf den Rest der Welt herunterblickt. Wir wollen Nachbarschaft. Oder vielleicht sogar das, was Mr. Rogers forderte: Liebe – gerade, weil es an ihr mangelt.