"La cache" im Berlinale-Wettbewerb

Willkommen bei den Boltanskis

Im Berlinale-Wettbewerb: Lionel Baier hat den Roman "La cache" von Christophe Boltanski verfilmt – die Familienerinnerungen des Neffen von Christian Boltanski, dem berühmten Installationskünstler, der hier eine tragende Rolle spielt

Die 100-Jährige sucht im Kleiderschrank nach Stücken, die ihr Urenkel auftragen könnte. Der Kleine lehnt die Hemden und Jacken alle ab – bis auf das Sakko mit dem Judenstern, den der Junge für einen Sheriffstern hält. Lionel Baiers Wettbewerbsfilm "La cache" ("Das Versteck") spielt im Paris des Jahres 1968. Vier Generationen einer Familie mit jüdischer Vergangenheit wohnen unter einem Dach. Der Junge, dessen erwachsene Erzählerstimme die Handlung kommentiert, ist aber nur zu Besuch, während sich seine Eltern an den Straßenkämpfen beteiligen. Was aus heutiger Sicht Geschichte ist – die 68er-Proteste – verzahnt sich in Baiers Film mit der Holocaust-Vergangenheit der Familie. Trotz des ernsten Hintergrundes ist "La cache" ein sehr komischer Film, ein Zeitpanorama, das nostalgisch-unterhaltsam mit Stilmitteln der Nouvelle Vague spielt.

Dem Nachspann entnehmen wir, dass es sich um eine freie Adaption des Romans "Das Versteck" von Christophe Boltanski handelt. Die politischen Ereignisse im Mai 1968 werden allerdings im Roman nur in in einem einzigen Satz behandelt, während sich die Proteste durch den ganzen Film ziehen. In einem Interview mit "Variety" hat der Schweizer Regisseur erklärt, dass er Boltanskis Erzählung mit Motiven seiner persönlichen Erinnerung verbunden hat.

Baier hat sich Boltanskis Roman angeeignet – mit überzeugendem Ergebnis. Ein anderer Wettbewerbsfilm, "Hot Milk" nach dem Roman von Deborah Levy, zeigte, wie eine Romanadaption auch scheitern kann. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Rebecca Lenkiewicz hat die Story um ein schwieriges Tochter-Mutter-Verhältnis, das in Südspanien eskaliert, nicht glaubwürdig für die Leinwand umsetzen können – trotz hervorragender Schauspielerinnen wie Vicky Krieps, Emma Mackey und Fiona Shaw.

Christian Boltanski ist der "kleine Onkel"

Bei "La cache" handelt es sich also um eine freie Romanadaption. Dennoch: Die Familienstruktur entspricht der realen Boltanski-Familie (auch wenn keine Namen genannt werden): Da ist die kettenrauchende Urgroßmutter (Liliane Rovère), die in Erinnerungen an ihre Heimatstadt Odessa schwelgt, Erinnerungen an Konzerte und Ballettaufführungen und Freundschaften wie die zum Komponisten Sergei Prokofjew, "der ein mieser Tänzer war".

Die Figur ihres Sohnes, gespielt von dem im vergangenen Oktober verstorbenen Michel Blanc, ist der Vorlage entsprechend nach dem Arzt Étienne Boltanski gezeichnet. Seine Söhne kommen ebenfalls im Film vor: der Soziologe Luc Boltanski (Adrien Barrazone), der Linguist Jean-Élie Boltanski (William Lebghil) – und der Künstler Christian Boltanski, der 2021 76-jährig starb. Mit Aurélien Gabrielli – rundliches Gesicht, große, ausdrucksvolle Augen – hat Baier einen sehr passenden Darsteller für den später berühmten Künstler gefunden.

Die Handlung setzt am Tag der ersten Galerieeröffnung des "kleinen Onkels" ein (den Namen Christian Boltanski erwähnt der Erzähler nie); zu sehen sind Malereien und Skulpturen, gegen Ende des Films erfahren wir, dass der junge Künstler zur Praxis der Installation übergegangen ist. Christian Boltanski sollte ja wirklich zu einem der bedeutendsten Installationskünstler werden, der mit Vorliebe mit Fotografien und Alltagsfragmenten arbeitete und dessen Kunst stark von der familiären Erfahrung der Shoah geprägt war.

Kraft des Erzählens

Beim "Versteck" des Filmtitels handelt es sich um eine Geheimkammer unter einer Treppe, auf die der Junge (Ethan Chimienti) stößt. Sein jüdischer Großvater Étienne wurde von seiner katholischen Ehefrau (Dominique Reymond) hier versteckt, bis Frankreich von den Nazis befreit war. Dass ausgerechnet der französische Präsident Charles de Gaulle hier, in der Wohnung einer linksgerichteten Familie, vor den Demonstranten des Pariser Mai Unterschlupf findet, ist eine Pointe des Drehbuchautors Baier.

Auch die Schlussepisode um die inzwischen verstorbene Urgroßmutter kommt in Christophe Boltanskis autobiografischem Roman so nicht vor: Der Großvater und sein Enkel fahren im Renault nach Odessa, um ihre Asche dorthin zu bringen. Wegen einer Autopanne kurz vor der Hafenstadt beschließen die beiden, die Urne am Straßenrand auszuleeren. Vergesst das reale, heruntergekommene Odessa der 1960er, sagt Lionel Baier damit. Es kommt auf die Erinnerungen an, auf Geschichten etwa, die eine Greisin ihrem Urenkel erzählt hat. Diese Kraft des Erzählens ist überhaupt in "La cache" zu spüren – und leider nicht überall auf der Berlinale, auch nicht im Wettbewerb des Festivals.

War es ein guter Jahrgang? Ein mittelprächtiger. Baiers Beitrag zählte zu den überzeugenderen, da könnte schon ein Bär herausspringen für diesen unterhaltsamen, aber nie oberflächlichen Film.