Manche Plätze in der Modewelt neu zu besetzen, kommt fast einer Bestrafung gleich. Die Person, die vorher den Job innehatte, war so kulturell relevant, hat die Position definiert und hatte einen solch immensen Einfluss, dass niemand sie ersetzen kann. Jeder, der versucht, diese Lücke zu füllen, kann nur scheitern. Oder?
So fühlte es sich zumindest an, als Viril Abloh starb und seine Posten neu vergeben werden mussten. Einmal der des Menswear-Designers bei Louis Vuitton und dann natürlich der des Artistic Directors bei seiner eigenen Marke Off-White. Pharrell Williams wurde zu Vuitton beordert. Die Entscheidung, das schon megareiche und megaerfolgreiche Multitalent auszuwählen, sorgte für kritische Fragen: Warum denn schon wieder jemand, der bereits alles hat? Warum nicht einem neuen Talent eine Bühne und finanzielle Mittel bieten, sodass bisher unbekannte Ideen ausprobiert werden können?
Was bei Vuitton verpasst wurde, holten die Entscheider bei Off-White nach und ernannten Ibrahim "Ib" Kamara als Ablohs Nachfolger. Dieser war, bis ihm dieses Fashion-Zepter überreicht wurde, als Journalist und Stylist tätig. Seine letzte Rolle war die des Chefredakteurs beim "Dazed"-Magazin. Zwei Jahre lang hatte Kamara außerdem mit Abloh bei Louis Vuitton und Off-White zusammengearbeitet, bis letzterer im Jahr 2021 starb.
Zeit für eine neue Richtung
Im April 2022 dann wurde Ib Kamara neuer Artistic und Image Director und hat seitdem still und leise die Kollektionen von Off-White auf den Laufsteg gebracht. Den Titel des Kreativen Leiters trug er da noch nicht. Seine Entwürfe kamen einem Überbrückungsmoment gleich: Die große Leere nach Virgil Ablohs Tod musste verarbeitet, sein Erbe analysiert und gefeiert werden, bis es Zeit für eine neue Richtung war.
Off-White ist in Mailand ansässig, zeigte die Kollektionen jedoch bisher immer in Paris. Abloh wollte sichergehen, dass seine Marke bei den ganz großen Luxusbrands mitmischte – die Pariser Modewoche gilt noch immer als die wichtigste der vier wichtigen. Ib Kamara holte seine Schau nun "nach Hause", in die USA, wo Abloh geboren wurde. Und zur New York Fashion Week (NYFW).
Vor kurzem war ihm der mächtigste aller Titel, der des Creative Director, verliehen worden. Endlich konnte Kamara zu den Abloh-Codes auch die seinen mischen, die Marke mit seinen eigenen Visionen aus der Trauerphase befreien. "Jetzt steht mein Name wirklich drauf", sagte Kamara im Backstage-Bereich der NYFW. Die erste offizielle Off-White-Modenschau unter seiner Führung fand auf den Basketballplätzen des Brooklyn Bridge Parks am East River statt. Ihr Titel lautete "Duty Free". "Für mich bedeutet Duty-Free, dass man nicht im Dienst ist. Du gehst nach New York. Du bist cool. Du bist jung. Du bist fantastisch. Aber du musstest auch in ein Flugzeug steigen, um zu kommen, also musstest du durch 'Duty Free' gehen", erklärte Kamara den Titel.
Abloh ist in den Stoffen verwoben
"Es fühlt sich für Off-White und auch für mich wie eine Heimkehr an", sagte er über seine Ortswahl. Und die Kollektion war zusätzlich von einer anderen Art des Ankommens inspiriert. Kamara war nach Ghana gereist, dem Land, aus dem Virgil Ablohs Eltern in die USA ausgewandert waren. Die Anfänge der gezeigten Kollektion seien dort entstanden, er habe es geliebt, auf den Markt zu gehen, Stoffe zu sammeln, mit lokalen Handwerkern zu arbeiten "und wirklich viel Gefühl dabei zu entwickeln". Abloh ist natürlich dabei, verwoben in den Mustern der Stoffe, in der Geschichte und auch seine Signature-Stücke dürfen nicht fehlen. Doch auf eine Art und Weise, die Platz für Kamara lässt.
In der Kollektion liefen Damen- und Herrenmode nebeneinander. Das wohl präsenteste Detail waren Reißverschlüsse: an hautengen Trainingsjacken, Westen und an aufgesetzten Hosentaschen, die durch die Zipper abgetrennt werden konnten. Oberteile und Kleider, deren Ausschnitt den Bauchnabel der Models freilegten, dominiertes die weiblichen Entwürfe. Extrem breite Gürtel oder wirklich kurze Röcke, besetzt mit Nieten und Pailletten, verlängerten die Torsos und stellten die Hüfthöhe in den Fokus, ähnlich wie die außerhalb der Hose platzierten Taschen bei den Männern. Rot, Schwarz, Weiß und Grün waren die präsentesten Farben.
Die Silhouetten hat Kamara körpernah gehalten. Die Looks der Männer waren zum Großteil ärmellos: Tanktops, zugeknöpfte Westen aus Denim, Leder oder Stoffen mit wildem Print. Gerade Hosen, Flip-Flops und enge, glitzernde Strick-Hoodies zog er den Models an. Gefiederte Netz-Röcke paarte Kamara mit Cut-Out-Hoodies, zeigte Kopf-bis-Fuß-Denim-Looks und Flugzeug-Ohrringe – zurück zum "Duty Free".
"Ein Schmelztiegel von Ideen"
Die Hosen saßen tief, die Taschen wurden an langen Henkeln in der Hand getragen. Mit dem Wort "Off"-beschriftete Kronkorken zierten Stilettos. Unaufgeregte, US-amerikanische Coolness, vereint mit einem afrikanischen Erbe, das der heutige wie der damalige Creative Director der Marke teilen.
"Ich arbeite für eine amerikanische Marke, die von einem Afroamerikaner gegründet wurde, in Mailand hergestellt und in Paris gezeigt wird. Das ist schon sehr global. Dazu kommen noch Afrika, meine britische Erfahrung, das Ausgehen in London und die vielen kulturellen Erlebnisse um mich herum. Ich musste das in moderne Kleidung einfließen lassen, aber von einem Standpunkt aus, der reich an einer Kultur ist, die vielleicht nicht genug oder nicht von den richtigen Leuten referenziert wird. Ich betrachte Off-White als einen Schmelztiegel von Ideen", erklärte Ib Kamara der "New York Times" wenige Tage vor seinem Debüt. Und das ist ablesbar.
Er selbst schrieb unter seinen Instgram-Post zur Show "Ich bringe die Spuren meines Lebensweges in den kreativen Prozess ein und lade meine Arbeit mit Energie auf." Ein gelungener Kompromiss zwischen der Erinnerung an eine Legende, der richtigen Platzierung von Off-White und dem Einschlagen einer eigenen Richtung.