Mit einem aufmerksamen Blick begutachtet eine junge Frau ihr Bildnis im Spiegel. Ihr Name laut Bildunterschrift: Eva Maria Hagen. Die schwarz-weiß Fotografie entstand im Jahr 1965. Seit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1949 waren 16 Jahre vergangen. Die Porträtierte wuchs daher in der DDR auf. Ist sie eine Ostdeutsche?
Eva Maria Hagen ist eine deutsche Film- und Theater-Schauspielerin sowie die Mutter der Sängerin Nina Hagen. Ihr fotografisches Porträt mit dem Titel "Eva Maria Hagen" wird neben weiteren dokumentarischen Aufnahmen in der Ausstellung "Roger Melis. Die Ostdeutschen" in den Berliner Reinbeckhallen gezeigt. Seit ihrer Eröffnung am 11. April sorgt die Retrospektive des 2009 verstorbenen Fotografen für eine Kontroverse – allerdings nicht wegen der fotografischen Motive, sondern wegen des Titels, der an Wolfgang Englers 1998 erschienene Publikation "Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land" erinnert. Die Relevanz des Begriffs "ostdeutsch" für eine "ostdeutsche Identität" ist Bestandteil aktueller politischer Diskurse darüber, was "ostdeutsch" heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, eigentlich noch bedeutet. Diese Diskurse scheinen sich wie ein Schatten über die Ausstellung zu legen.
Umstrittene Identitätszuweisung
Folgt man den Worten des DDR-Historikers Patrice Poutrus, ist die Beschreibung von Eva Maria Hagen als "Ostdeutsche" problematisch. In einem "Taz"-Interview mit dem "Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst" blickt er kritisch auf diese Identitätszuschreibung: "Erst in Auseinandersetzung mit einer sich verändernden und auch erweiternden Umwelt entstand überhaupt so etwas wie eine ostdeutsche Identität. Wenn man also auch von 'den Ostdeutschen' spricht und damit die ehemaligen DDR-Bürger meint, dann ist das zumindest historisch undifferenziert. Eine konkrete Erfahrung wird künstlich in die Vergangenheit verlängert."
Poutrus zufolge kann sich die porträtierte Eva Maria Hagen nicht als Ostdeutsche gesehen haben, da diese Differenzierung erst nach der Wiedervereinigung aufkam: "Die DDR-Bürger – und das wäre mein Argument – waren vor der 'Wende' keine 'Ostdeutschen' beziehungsweise verstanden sich nicht als solche. Diese Identifizierung entstand erst im Kontrast – sowohl zu 'den Westdeutschen', aber genauso zu den eigenen Westdeutschlanderfahrungen nach dem Mauerfall von 1989."
Die Ostdeutschen, das sind die anderen?
Poutrus' Argumentation macht auf die essenzialisierende Wirkung des Ausstellungstitels "Die Ostdeutschen" aufmerksam. Waren und sind "die Ostdeutschen" eine andere, fremde "Spezies", die es heute zu erkunden und definieren gilt?
Der Alltag in der sozialistischen DDR hat sich in einigen Punkten von dem Leben in der kapitalistischen BRD unterschieden. Die mono-identitäre, essenzialistische Zuschreibung als "Ostdeutsche" schafft allerdings eine künstliche Unterscheidung, die laut Poutrus zudem ein Grund für die "ostdeutsche Opferthese" als "kolonialisierte Bevölkerung" nach der Wiedervereinigung sei. Diese "Opferthese" werde nicht zuletzt für rassistische und rechtsextreme Handlungen und Anschläge instrumentalisiert.
Die verallgemeinernde Identitätszuschreibung "Ostdeutsche" im Ausstellungstitel wird den dokumentarischen Fotografien von Roger Melis nicht gerecht und lenkt von den eigentlichen Motiven, Lebensrealitäten und Persönlichkeiten der Menschen ab, die bis zur Wiedervereinigung 1989 in der DDR gelebt haben. Die im verspiegelten Diptychon reflektierte Frau namens Eva Maria Hagen ist dort aufgewachsen, was heute von manchen als "Ostdeutschland" bezeichnet wird. Nur eine "Ostdeutsche" war sie deswegen nicht; sondern ein Individuum, mit einer individuellen Geschichte, die allenfalls DDR-Bürgerin war und seit ihrem Austritt aus der DDR im Jahr 1977 eine deutsche Staatsbürgerin ist.