Es gibt Schlagzeilen, die muss man zweimal lesen, sie klingen einfach zu unwirklich. "Ballettchef beschmiert Kritikerin mit Hundekot" gehört auf jeden Fall in diese Kategorie. Der Choreograf Marco Goecke hat am Wochenende bei einer Premiere in der Staatsoper Hannover die Berichterstatterin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Wiebke Hüster, mit Hundekot attackiert. Goecke habe ihr zuvor vorgeworfen, Kritiken mit persönlichen Angriffen zu schreiben, so die Journalistin später. Inzwischen ist Goecke suspendiert.
Dieser erniedrigende Angriff kommt nicht aus dem Nichts. In den letzten Jahren hat sich hochsubventioniertes Personal der darstellenden Kunst abfällig über Kritik geäußert, die "FAZ" gibt in einer Reaktion auf den Eklat einen guten Überblick über vorangegangene Ausfälle. Wer wie die Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier behauptet, Rezensionen seien "Scheiße am Ärmel der Kunst", offenbart ein merkwürdiges Verhältnis zur Öffentlichkeit für eine Person in einem öffentlichen Amt.
Und es offenbart einen Anspruch an die Kunst, der einen Geniekult wie aus dem 18. Jahrhundert beschwört. Diese Unbedingtheit, unerbittliche Konkurrenz, Prätention, verrückten Künstleregos – in einigen Sparten der Kunst geistern sie offenbar noch herum. Wer den in einem Ballettensemble spielenden Psychothriller "Black Swan" oder den im März anlaufenden Film "Tár", in dem Cate Blanchett als Dirigentin eines deutschen Orchester völlig entgleist, für übertrieben hielt, wird nun durch den Vorfall in Hannover eines Besseren belehrt: Der offensichtliche Druck in der Tanz-, Musik- und Theaterwelt entlädt sich in Missgunst, der sich bis zur physischen Gewalt steigern kann.
Und in der bildenden Kunst?
Und wie sieht es in der bildenden Kunst aus? Sie hat sich durch Ironie, Konzeptualisierung, Institutionskritik, den Kollektivgedanken und Selbstreflexion hundertfach emanzipiert vom Künstler-Ego. Doch das trifft auch für Tanz, Theater und selbst für Oper zu. Oder nicht? Vielleicht besteht der wesentliche Unterschied darin, dass bildende Kunst nicht allein in öffentlichen Institutionen stattfindet, sondern auch auf dem Kunstmarkt. Und der ist für Kritik unerreichbar, weil es keiner Rechenschaft im von Geschmack abhängigen privaten Handel bedarf.
Auf der Bühne und im Saal eines Stadttheaters oder einer Staatsoper hingegen verdichten sich Abhängigkeitsverhältnisse und Spannungen. Mit der an sich pathetischen Geste des Darstellens und Zeigens entstehen Situationen, die wie geschaffen sind für Entladungen und Eklats. Während der wahre Einfluss der Kunstberichterstattung auf die Branche weniger in Kritik besteht, sondern im Investigativjournalismus, scheinen Rezensionen in Theatern und Opernhäusern noch eine größere Bedeutung für kommende Förderanträge zu spielen.
Doch auch in der bildenden Kunst werden Kritikerinnen und Kritiker gelegentlich diffamiert. Buchstäblich um Kacke ging es auch bei Neo Rauchs "Anbräuner": Das Bild stellte einen konkreten Kritiker als mit Exkrementen malenden Möchtegern-Künstler dar. Dass der Leipziger Maler keine hohe Meinung vom freien Diskurs hat, weiß man: Journalisten bezeichnet er als "Skribenten" und "Schmieranten", Kunstkritik als "Unrat". Dahinter steht ein Verständnis von Kunst als autonome Sphäre, als etwas, das sich dem Zugang und der Vermittlung durch Worte entzieht.
Der Kritikerhass wirkt bei Rauch eher wie ein exzentrischer Faible, konnte die angeblich schlechte Kritik seinen Erfolg auf dem Kunstmarkt und in öffentlichen Museen nicht verhindern. Und doch zeigt der Fall Hannover, dass beleidigende Reaktionen auf sprachlich vorgetragene Argumente nicht akzeptabel sind. Marco Goecke fühlte sich offenbar provoziert durch Wiebke Hüsters Rezension eines Den Haager Ballettabends. Doch nichts daran ist persönlich gemeint, alles ist gut begründet und sogar an einigen Stellen lobend. Durch seinen Angriff zeigt der Künstler nur, wie wenig autonom er und seine Kunst tatsächlich sind.