Selbstabschaffung eines Genres

Was wurde eigentlich aus Streetstyle-Blogs?

Streetstyle-Fotografie war in den 2000er- und 2010er-Jahren eine große Nummer. Doch Influencer-Marketing und leergefegte Straßen während der Pandemie haben die spontanen Mode-Schnappschüsse in eine Krise gestürzt. Eine Bestandsaufnahme

Etwa im Jahr 2008 zirkulieren die ersten Outfit-Fotos von Chiara Ferragni im Internet. Schon bald darauf startet die Italienerin ihren Modeblog "The Blonde Salad" und wird als erste ihrer Art zu einer Modenschau eingeladen. Damit ebnet sie den Weg für unzählige Influencerinnen und Influencer, die heutzutage in den Frontrows Platz nehmen dürfen. Tausende Follower scrollen sich durch ihre Blogposts und feiern ihre selbstgestylten Looks.

Etwa zur gleichen Zeit wird die Plattform Lookbook.nu gegründet, eine Website, auf der User ihre eigenen Outfits hochladen und bewerten lassen konnen. Das Ziel: echte Menschen als modische Inspiration, nicht bloß die Models auf den Laufstegen oder Superstars auf dem roten Teppich.

Den Willen, den Stil von Passantinnen und Passanten festzuhalten und auszustellen, wurde Mitte der 2000er-Jahre groß, als Streetstyle-Blogs anfingen, das Internet zu besiedeln. 2005 startete Scott Schumann "The Sartorialist", 2008 Tommy Ton "Jak & Jil", 2007 ging Søren Jepsens "The Locals" an den Start. "Ich gehörte zu den ersten, die einen eigenen Streetstyle-Blog starteten, das war im Januar 2007", berichtet Fotograf Søren Jepsen im Gespräch mit Monopol. "Damals ging es beim Streetstyle um 'echte Menschen' auf der Straße, und das hat mich fasziniert. Ich habe ganz normale Leute mit einem großartigen Sinn für persönlichen Stil fotografiert, und das hatte nichts mit Modewochen oder der Modebranche als Ganzes zu tun. Im Gegenteil, es war als Alternative zur etablierten Modeszene gedacht, etwas, mit dem sich die Leute identifizieren konnten, auch wenn sie nicht die Mittel hatten, Designerkleidung zu kaufen."

Streetstyle als kuratiertes Marketing 

Die Streetstyle-Fotografen fingen mit ihrer Kamera die spannendsten Kleidungskombinationen und bestangezogenen Menschen ein, die ihnen in ihren jeweiligen Städten über den Weg liefen. Später stellten sie diese auf ihren Blogs den Mode hungrigen Millenials zur Verfügung, die daraufhin ihre Jacken ebenfalls nur noch über die Schultern gehangen trugen oder ihre Jeansshorts mit Nieten verzierten. "The Sartorialist berichtete über New York, Yvan Rodic, The Facehunter, erkundete die Straßen von London, Hel-Looks arbeitete von Helsinki aus. Ich habe angefangen, weil ich fand, dass Kopenhagen und sein großartiger Stil einen eigenen Street-Style-Blog verdient haben. Und so wurde meine erste Website, Copenhagen Street Style, geboren. Später wurde daraus meine aktuelle Website, The Locals."

Die Faszination rührte daher, dass jeder, der kreativ genug war, eine Leidenschaft für Mode hegte und einen eigenen erkennbaren Stil vertrat, auf eben diesen Plattformen landen konnte. Es war ein Privileg, sich selbst auf einem Streetstyle-Blog, für alle sichtbar, wiederzufinden. Einem neuen Medium, das die Modewelt für einen kurzen Moment demokratischer, offener und auch spannender machen sollte. Die Blogs wurden über die Jahre größer und wichtiger, eine wahre Alternative zu den sich stetig wiederholenden Modezeitschriften.

Die Bedeutung des Begriffs "Streetstyle" jedoch verschwamm mehr und mehr. Magazine begannen, für die angesagten Aufnahmen zu bezahlen, wollten jedoch spezifische Trends abbilden. Und so besuchten die Fotografen vermehrt und bald fast ausschließlich die Modewochen, deren Gäste zuverlässig in die neueste Mode gekleidet waren. Jeder Look, der so auf den Straßen vor den Shows festgehalten wurde, lief unter "Streetstyle", wurde jedoch bald zu fein kuratiertem Marketing. "Der Hauptunterschied zwischen dem zufälligen Fotografieren und dem Fotografieren auf einer Modewoche war sofort offensichtlich: die Geschwindigkeit, mit der man Menschen zum Fotografieren findet. Früher war ich stundenlang auf den Straßen Kopenhagens unterwegs und habe manchmal nur ein einziges Bild an einem Tag gemacht. Auf der Mailänder Modewoche hätte ich in der gleichen Zeit 50 Fotos machen können", erinnert sich Jepsen.

Von der Straße zum Laufsteg

Als immer mehr Blogger Zutritt zu Modeschauen erhielten, standen vor allem sie im Blitzlichtgewitter der wartenden Fotografen, und Modemarken witterten ein Geschäftsmodell hinter den einst spontanen Fotos. Sie verstanden das kommerzielle Potenzial, verliehen Kleider oder bezahlten dafür, dass ihre Mode getragen wurde. So entwickelte sich auch das einst unschuldig begonnene Festhalten gut gekleideter Fremder zu einem Business. "Meiner Meinung nach spielt der persönliche Stil bei der Kleidung für die Modewoche im Allgemeinen keine große Rolle mehr. Für mich wurde mein Job dadurch viel langweiliger und weniger inspirierend", sagt Jepsen.

Camille Charriere, selbst eine der ersten Modebloggerinnen, sieht es ähnlich, wie sie in einem Interview sagt: "Streetstyle wurde zur Show, zum Ereignis. Von dem Moment an begannen die Leute, dafür aufzutreten. Der Begriff wurde so oft verwendet, dass die Menschen das Gefühl dafür verloren, ob er wirklich 'authentisch' oder 'echt' ist." Hatte man einmal einen erfrischenden Blick in wahre Kleiderschränke gut gekleideter New Yorkerinnen, Däninnen oder Mailänder werfen können, sah man nun vor allem das, was man laut mächtiger Konzerne sehen sollte.

Die geliebt-gefürchtete Stilredakteur Suzy Menkes veröffentlichte mit ihrem Essay "The Circus of Fashion" 2013 eine direkte Kritik an die "Peacocks", die sich über die letzten Jahre vor den Modeschauen herumtrieben. Sie würden die gezeigte Mode mit ihren übertriebenen Aufzügen in den Schatten stellen und von dem eigentlichen Geschehen - der auf den Laufstegen gezeigten Entwürfe - ablenken.

Ein Outfit für Prada, eins für Gucci, eins für Bottega Veneta

Auf den Punkt brachte es auch die Modefotografin Garance Doré mit dem Satz: "Was wir als Streetstyle bezeichnen, ist eigentlich gar kein Streetstyle, sondern der Stil der Modewoche." Früher wurden ausschließlich die wichtigsten Stylisten, Journalistinnen und Einkäufer zu Modewochen eingeladen, heute kommen Influencer aus aller Welt, von Kopf bis Fuß in der zeigenden Marke gekleidet. Ein Outfit für Prada, eins für Gucci, eins für Bottega Veneta. Inspiration für den eigenen Kleiderschrank ist da so gut wie keine mehr.

Influencer, eine Berufsgruppe die Mitte der 2010er-Jahre aufkam, brachten nicht nur den Streetstyle um seine einstige Bedeutung, sondern auch die Streetstyle-Fotografen um ihr Business. Wurden ihre Vorgänger, die Modeblogger, durch diese groß rausgebracht, schlossen die Influencer die mit den Kameras wartenden Kreativen langsam aus, in dem sie ihre Fotos ganz einfach selbst mit dem iPhone schossen, oder ihre eigenen Fotografen sie begleiteten.

Niemand wartete mehr darauf, auf einem Blog zu landen, längst hatten sie mit Instagram eine Plattform, auf der sie unabhängig ihre Outfits der Welt zur Schau stellen konnten. "Auch meine eigene Art der Veröffentlichung hat sich stark verändert", erklärt Jepsen. "Ich habe immer noch meine Website The Locals, aber viele meiner (jüngeren) Kollegen veröffentlichen nur noch auf Instagram. Da ich weniger Streetstyle fotografiere, aktualisiere ich auch meine Website viel seltener und veröffentliche nur noch regelmäßig auf Instagram."

Jetzt auf Instagram

Und der wahre Stil der Straßen dieser Welt? Auch der ist auf Instagram umgezogen. Blonde Influencerinnen in pinken Tüllroben sieht man dort nicht, sondern wieder die Bewohner aus Metropolen, wie sie Kaffee holen, ihre Hunde Gassi führen oder auf Vespas durch die Straßen düsen. Der Instagram-Account "Parisians in Paris" kam etwa 2020 auf und porträtiert den unangestrengten Stil der Bewohner der französischen Hauptstadt. Heimlich und anonym. Oft von hinten fotografiert oder gefilmt, geht es nicht um professionelle Modefotos, sondern um Momentaufnahmen besonders parishafter Looks.

Eine junge Frau in einem weißen Kleid und schwarzen Sneakern, lässig eine Chanel-Tasche über der Schulter, fährt E-Roller. Eine ältere Dame in einem kamelfarbenen Kaschmir-Mantel und beigem Kopftuch schiebt ihren Einkaufswagen an der Brottheke vorbei. Ein Pärchen in weit geschnittenen Jeans und Lederjacken raucht auf dem Bürgersteig. Marken oder Menschen werden nicht verlinkt, es geht einzig allein um den Stil, so casual und einfach, wie man sich morgens eben anzieht, ohne die Idee im Hinterkopf, für einen Modeblog fotografiert zu werden.

Eine Entwicklung, die Jepsen gerne beobachtet: "Es handelt sich im Grunde um klassischen Streetstyle im ursprünglichen Sinne. Und es führt eine ganz neue Generation in die Freude ein, echten persönlichen Stil zu sehen. Diese Generation kennt Streetstyle nur als kommerzielles Gebilde, als Posts von Influencern, als Werbestil und als professionelle Editorials in Zeitschriften, weil sie die Anfänge nicht miterlebt hat."

Chronik des New Yorker Streetstyles

Schnell fanden sich nacheifernde Accounts für fast jede größere, europäische Stadt. "Milanesi a Milano", "Londoners in London" oder "Copenhageners in Copenhagen" kann man so auf Instagram beobachten. Jenseits des Atlantiks ist der Account "Watching New York" von Johnny Cirillo einer der größten Streestyle-Kanäle und zählt mittlerweile über eine Millionen Follower. Der Fotograf möchte den New Yorker Streetstyle würdigen, Menschen, die mit ihrer Kleidung die Straßen schmücken, wie er es nennt. "Die Paparazzi des Volkes. Mode auf den Straßen von New York City. Einblicke vom echten Leben auf der Straße", liest sich die Beschreibung seines Profils.

Cirillo pickt sich ihm ins Auge springende Menschen heraus, nichts ist gestellt, oft merken die Fotografierten erst später, dass sie von seiner Linse eingefangen worden sind. Johnny Cirillo hatte den Account an dem Todestag Bill Cunninghams gegründet, des Fotografen, der Streetstyle-Fotografie einst ins Leben gerufen hatte. So wollte er seinem Vorbild, und indirekt allen Streetstyle-Fotografen Tribut zollen.

Cunningham fing, auf seinem Fahrrad durch Midtown fahrend, New Yorker jeden Alters, Geschlechts, jeder Gehaltsklasse und jeder Hautfarbe ein. Beginnend Mitte der 1960er-Jahre, fertigte er so eine Art Chronik des New Yorker Streetstyles an, die die ungefilterten Modetrends der Straße und die Garderobe der Stadtbewohner portraitierte. So, wie es auch Jepsen und seine Kollegen in einer Art Renaissance vor etwa 15 Jahren begonnen hatten.

Zu schön, um sie vorbeilaufen zu lassen

"Wenn ich fotografiere, achte ich auf den persönlichen Stil, mit dem etwas getragen wird - manchmal sogar darauf, wie ein Regenschirm getragen wird oder wie ein Mantel geschlossen gehalten wird. […]. Ich bin daran interessiert, einen Moment mit Lebendigkeit und Geist einzufangen", sagte Cunningham einst in einem Interview. Und ist es nicht das, was wir uns in einem immer dichter werdenden Dschungel aus AI generierten, mit Filtern perfektionierten und erkauften Instagram-Fotos wünschen?

Die Streetstyle-Fotografie der 2000er- und 2010er-Jahre gibt es so nicht mehr. Auch wegen der Covid-Pandemie, einer Zeit, in der die Straßen leergefegt waren und Modenschauen online stattfanden, wie es Jepsen beschreibt. "Ich machte einige Remote-Aufnahmen, die Spaß machten, und konzentrierte mich dann nach den Lockdowns mehr auf Studioaufnahmen. Der Abstand zur Szene war eine interessante Erfahrung für mich, und seitdem bin ich nicht mehr zur Vollzeit-Streetstyle-Fotografie zurückgekehrt. Die Szene hat sich so sehr verändert, die Arbeit ist schwieriger geworden, und es schien mir an der Zeit, mich anderweitig umzusehen."

Verändert, damit meint er, dass der Wettbewerb enorm geworden ist. Kunden verlangen eine unmögliche Menge an Bildern, in kürzeren Fristen, zu wesentlich niedrigeren Honoraren. Doch der Stil der Straße als solcher blüht nach den isolierten Covid-Zeiten wieder auf und wird, von stillen Beobachtern, wohl immer auf die ein oder andere Art festgehalten und verbreitet werden. Zu schön sind alte Pärchen in pastellfarbenen Hosenanzügen, Freundesgruppen mit einem erkennbaren, gemeinsamen Stilempfinden oder eine junge Frau in einem roten Ledermantel, als sie einfach so vorbei laufen zu lassen.