Alessandro Micheles Couture-Debüt in Paris

Die Aliens vom Planeten Valentino

Bei den Pariser Haute-Couture-Schauen hat Alessandro Michele sein Schneiderkunst-Debüt für Valentino gezeigt. Dabei wurde deutlich, was ihn einzigartig macht: die Verbindung von historischen Referenzen mit radikaler Gegenwart

Am selben Tag, an dem verkündete wurde, dass Glenn Martens neuer Kreativdirektor bei Maison Margiela wird, musste ein weiterer neuer Chefdesigner sein Können unter Beweis stellen. Alessandro Michele zeigte in Paris seine erste Haute-Couture-Kollektion für Valentino. Etwas, das ihm vorher bei Gucci nicht vergönnt gewesen war. Couture und Michele, das klang schon von Anfang an wie zwei Komponenten, die ein Ganzes ergeben würden. Eine Kombination aus Geschichtenerzähler und dem Zweig der Mode, der nur besteht, um das Narrativ eines Hauses zu untermauern. 

Neben Daniel Roseberry für Schiaparelli, die absolute Crème de la Crème der aktuellen Couture, war Micheles Haute Valentino vielleicht die meisterwartete Pariser Show. Unter dem Titel "Vertigineux" war sie angekündigt worden, im Palais Brongniart wurde sie gezeigt. 

Einen Tag vor dem großen Debüt hatte das "iD-Magazine" ein "Valentino Frühling-Sommer-2025-Couture-Bingo" gepostet. Welche typischen Elemente würden wohl vorkommen? Blumenmuster standen zur Auswahl, Piercings, die Michele gern mittig im Gesicht platziert und mit Ketten verbindet, Katzen-Details und Pelzbesatz, bunte Strumpfhosen, Polka Dots, Federn, rüschige Handschühchen, Perlen und goldene Kettenhenkel. All das gab es bereits in Micheles Prêt-à-porter-Entwürfen zu sehen, entnommen aus Valentino Garavanis Archiv. Einige der genannten Details hatte der kreative Kopf auch schon bei Gucci eingesetzt, wo er seine eigene Handschrift aus Maximalismus und Nostalgie komponiert hatte. 

Der Schwindel der Liste

Die Shwonotes, die sowohl für die Gäste auslagen als auch auf Valentinos Instagram-Kanal gepostet wurden, gaben einen raren Einblick in Micheles Design-Inspiration. Sie begannen mit einem Auszug aus dem Buch "The Infinity of Lists" des italienischen Semiotikers Umberto Eco, das 2009 erschienen war. "Die Liste ist der Ursprung der Kultur", hieß es. Kultur wolle die Unendlichkeit verständlich machen, Ordnung schaffen. Und wie gehen wir Menschen mit der Unendlichkeit um? Mit Listen. "Die Liste zerstört die Kultur nicht, sie kreiert sie", endete der Absatz. 

Eco spricht vom "Schwindel der Liste", einem Gefühl der Unendlichkeit, das durch das unaufhörliche, oft unvollständige Aufzählen entstehe. Dieses "Etcetera" verweise auf etwas, das ins Unendliche reichen könnte, aber nie vollständig erfasst werden kann. Ecos Ansätze haben Alessandro Michele bei der Entstehung seiner ersten Couture-Show begleitet. Jedes seiner Kleider eine eigene Liste, in der alle möglichen Referenzen und Materien miteinander verschmelzen. 

Der Laufsteg war nicht, wie man es hätte erwarten können, ein verwunschen-verstaubtes Märchenland, sondern eine schwarze, nackte Bühne. Im Hintergrund liefen in roten Buchstaben die jeweiligen Bestandteile eines jeden Kleides über ebenfalls schwarze Bildschirme. Gleichzeitig wurde jeder Look mit einer riesigen Leuchtnummer angekündigt. 

Ein Harlekin aus dem Archiv

Die Eins gehörte dabei einem dem "Clowncore" entsprungenen Abendkleid, das in vier Farben das Kartenspiel-Karo aufnahm und so ein Harlekin-Muster aus Tüll ergab; Hellblau, Rosa, Bordeaux-Rot und Erbsengrün. "014 Peach Pink 16th Century Playful Diamonds 1014 Space Valentino Garavani Shirt" waren nur einige der Zutaten, die neben dem Modell über den Monitor zogen. Wie ein kurzer, abstrakter Einblick in das Gehirn eines Modegenies, durch das eine schier endlose Bibliothek an Einflüssen und Assoziationen strömt. 

In seiner Instagram-Story zeigte Michele später ein "Work in Progress"-Bild des Kleides, für das die bunten Stoffbahnen miteinander verflochten wurden. Obwohl man diese Art von verspielt-mutiger, clownesker Couture lange nicht mit der Marke Valentino verbunden hatte, ist das Kleid eine Neuauflage eines Valentino-Garavani-Originals. In der Alta-Moda-Kollektion aus dem Frühling 1992 zeigte der Markengründer eine sehr ähnliche Robe – nur das Bustier-Top und die Farbauswahl unterscheiden die Exemplare. 

Das ist sehr Alessandro Michele: Archive durchstöbern und seine Vorgänger und Inspirationsquellen durch deutliche Zitate ehren. Eine eigene Neuauflage schaffen. Starke Markencodes wieder aufleben lassen und sich zu eigen machen. Ein weiteres Gewand, eines der stärksten, war aus der Valentino Alta-Moda-Frühlingskollektion 1985 übernommen worden: ein schwarzes, schmales Trägerkleid, an dem auf Taillenhöhe ein blauer Reifrock im Rokokostil zu beiden Seiten ausholte und nach unten floss. Und auch ein rotes, aus abertausenden Tüllrüschen bestehendes Abendkleid, der Look Nummer 20, kam aus dem 1977er-Valentino-Archiv. Ein Vermächtnis, das trotz der intensiven aktuellen Handschrift immer seinen Platz fand. 

Die Obsessionen eines römischen Menschen

Referenzen sind es, die Alessandro Micheles Entwürfe so einzigartig machen. Riesige Panniers aus dem 17. Jahrhundert und ausladende viktorianische Krinolinen setzte er unter 50er-Jahre Kleider, bediente sich an Elementen der katholischen Kirche und erinnerte an Couturiers der frühen 1920er-Jahre, wie Paul Poiret. 

"Ich habe viele Obsessionen durchlebt, eine unglaubliche Liste von Dingen. Zuallererst habe ich versucht, zu meinen persönlichen Obsessionen als römischer Mensch zurückzukehren. Ich habe mir die Valentino-Archive angesehen und meine Leidenschaft für historische Kostüme entdeckt - der Traum, die metaphysische Idee der Mode", erklärte Michele der "Vogue" vor seiner Show. Mit einem Atelier voller Couture-Schneiderinnen, deren talentierte Hände seine philosophischen Visionen zum Leben erwecken konnten, schaffte es der Designer, noch einmal tiefer in sein Universum zu entführen. 

Das gelang durch eine Fülle an Material und feinster Handwerkskunst. Präzise, glitzernde Stickereien, überladene Blumenprints, Rüschen über Rüschen und natürlich Schleifen besetzten die Entwürfe. Ein ganz und gar gehäkeltes Kleid repräsentierte ein anderes Level an Handarbeit, die meist als Frauengebastel abgetan wird. Es ist jedoch eine der wenigen Techniken, die maschinell nicht nachgeahmt werden können und steht so einmal mehr für die hohe Kunst, der die Haute Couture sich verschreibt. 

Weg vom Kostüm, hin zum Kleid

Auch das Casting hob sich von einer stereotypen Modenschau ab. Alessandro Michele ließ einige ältere Models laufen, deren weißes Haar den exzentrischen Entwürfen eine gewisse Abgeklärtheit verpasste. Alle Modelle waren nur äußerst dezent geschminkt und trugen schlichtes Haar. Das ergab etwas Rohes, unerwartet Natürliches, das die aufgeregte Fashion in einen alltäglicheren Zustand versetzte. Weg vom Kostüm, hin zum tragbaren Kleid. Als habe man sich morgens schnell etwas übergeworfen, das sich zufällig als eine knallgelbe Rüschenrobe herausstellt, mit schwarzem Schleifen-Gürtel, abstehendem Bortenkragen, schwarzem Federhut und Spitzenstrumpfhose. 

Alessandro Michele zeigte aus Wolle gestickte Blumenmuster auf Krinolinen-Kleidern, verhüllte Gesichter mit transparenten, verzierten Sturmhauben, verschloss bodenlange Falten-Capes mit riesigen roten Schleifen, konstruierte Patchwork-Couture-Kleider und kombinierte Seiden-Ensembles mit langem Pelzbesatz. Er ließ pharaonenhafte Kopfbedeckungen, giftgrüne hochgeschlossene Wollkleider, Strumpfhosen, aus denen silberne Blumen wuchsen, und bunte Quasten-Umhänge koexistieren. Die Accessoires erreichten ebenfalls ein neues Level. Aus einem glitzernden Brillengestell liefen Strassbahnen bis über das Kinn hinaus. Kopfschmuck verwandelte sich in Masken, enorme Blumenreifen umschlossen die Gesichter, Fingerhut-ähnliche Kappen waren mit Goldschuppen besetzt. Dazu türmten sich bunte Armreife übereinander, mischten sich mit Federn, Perlen und vielem mehr, das das "Valentino-Bingo" vorhergesagt hatte. 

Als Finale der Couture-Show liefen die Models in einem Pulk wie im Zeitraffer durch Stroboskop-Licht über die Bühne. Schleppen, Glitzer, Tüll und Spitze blitzten ab und zu auf, als sie wie Kreaturen der Nacht, wie Aliens des Planeten Valentino-Michele, durch die grellen Blitze rannten. Zurück blieb ein Schwindel, der den Wechsel zwischen den entgegengesetzten und sich ergänzenden Tendenzen beschrieb, die Alessandro Michele in seiner Haute Couture vereint hatte. Aus einer vielleicht unendlichen Liste an Elementen, auf die nur er Zugriff hat.