"Der unrechtmäßige Entzug von İmamoğlus Diplom wird nicht ausreichen, um ihn zu stoppen. Ekrem İmamoğlu ist der kämpferischste und mutigste Mensch, den ich kenne. Heute ist der größte Schritt auf seinem Weg zur Präsidentschaft getan." Zülfü Livaneli wagte sich am Mittwoch vergangener Woche auf seinem Instagram Account weit vor; kurz nachdem die Nachricht von der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters von der oppositionellen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) bekannt wurde.
Der 78 Jahre alte Livaneli, als Schriftsteller, Filmemacher und Sänger einer der (auch international) prominentesten Multitalente der Türkei, kann sich diese Wortmeldung leisten. Ansonsten reagierte die Kulturszene des Landes zunächst genauso wie der Rest der Gesellschaft: mit fassungslosem Entsetzen und Schweigen.
Monatelang war immer wieder scherzhaft darüber debattiert worden, wann wohl Ekrem İmamoğlu verhaftet werden würde. Dass es so schnell gehen würde, hatte dann doch keiner erwartet. Bestürzung auch deshalb, weil mit Ercan Saatçi, dem Sänger und Songwriter der Grup Vitamin und jetzigem Berater İmamoğlus, einer der ihren betroffen war. Festgesetzt wurde ebenfalls der bekannte Enthüllungs- und TV-Journalist Ismail Saymaz, der mit seinen Investigativ-Recherchen dem "tiefen Staat" im Land auf der Spur war und für die Zeitung "Sözcü" schrieb.
Vieldeutiges Schweigen, dann löste sich die Schockstarre
Der Schriftsteller, Künstler und Nobel-Preisträger Orhan Pamuk, seine Kolleginnen Elif Şafak und Aslı Erdoğan oder die allseits vergötterte Pop-Diva Sezen Aksu, gleichsam die Kronjuwelen der türkischen Kultur, hüllten sich zu der Zeit noch in vieldeutiges Schweigen. Ebenso die Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV), die wichtigste Kulturorganisation der Stadt, die auch die dortige Kunstbiennale veranstaltet.
Verdenken kann man es ihnen nicht. Niemand will sich freiwillig die Rache des nachtragenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in seinem Palast in Ankara zuziehen. Öffentliche Positionierungen sind in der real existierenden türkischen Autokratie riskant. Schließlich wurden bislang insgesamt 1133 Menschen festgenommen, davon rund 40 Personen allein wegen kritischer Posts in den sozialen Medien im Gefolge der Staatsstreich-artigen Aktion. Auch neun Medienschaffende sind darunter.
Selbst Berkay Gezgin wurde auf dem Rückweg von einer Demonstration vor dem Amtssitz seines Idols im Istanbuler Stadtteil Saraçhane festgenommen. Der junge Mann hatte, so will es die Legende, İmamoğlu einst auf der Straße den Slogan "Alles wird gut" zugerufen, den dieser dann zu seinem Markenzeichen machte – Stoff für Mythen. Erst während des vergangenen Wochenendes lockerte sich die allgemeine Schockstarre. Eine Gruppe von Künstlern und Intellektuellen hatte Özgür Özel, dem Vorsitzenden von İmamoğlus CH-Partei, demonstrativ einen Solidaritätsbesuch abgestattet.
"Nein zu den Ungerechtigkeiten"
Am Sonntag folgten 190 Schriftstellerinnen und Schriftsteller. In einer demonstrativ öffentlich vor dem Museum des Nationalschriftstellers Orhan Kemal im Stadtteil Cihangir verlesenen Petition verurteilten die Unterzeichnenden den "antidemokratischen Staatsstreich" der Regierung: "Auch wir sind auf den Straßen und sagen nein zu den Ungerechtigkeiten. Recht, Gesetz und Gerechtigkeit!"
Je stärker sich die Dynamik der Istanbuler Proteste entwickelte, desto deutlicher zogen viele Kulturschaffende schließlich nach. Der kurdische Künstler Halil Altındere teilte demonstrativ ein selbstgewisses Bild İmamoğlus mit dessen berühmtem Slogan "Her şey çok güzel olacak – Alles wird großartig", der bekannte Schriftsteller Murathan Mungan postete einen Aufruf zum Generalstreik. Der Bildhauer Ahmet Güneştekin postete auf seinem Instagram-Account eine seiner Arbeiten mit dem Zusatz: "Wo das Recht fehlt, beginnt der Verfall". Die Kunstveranstalter Perasma, die jedes Jahr auf der griechischen Insel Leros eine Ausstellung organisieren, veröffentlichten eine Solidaritätsbekundung.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich derzeit ein Aufruf zum Boykott einer ganzen Reihe regierungsnaher Unternehmen und Marken wie dem im ganzen Land verbreiteten EspressoLab oder der Bäckereikette Simit Sarayı. Selbst das Pop-Idol Tarkan, das zwar in Deutschland wohnt, aber einer der umjubeltesten Künstler der Türkei ist, wagte sich mit einem Post an die Öffentlichkeit: "Der Kampf um Demokratie macht das Land schöner" ließ er die Welt zwischen Bosporus und Rhein wissen. Bekannte Rockbands wie Mor ve Ötesi oder Duman forderten die Freilassung İmamoğlus.
Fantasievolle öffentliche Bildsprache
Eigentlich herrscht in Istanbul seit der Verhaftung ein generelles Demonstrationsverbot. Doch Proteste - allen voran die der Studierenden in Istanbul und Ankara - flammen immer wieder neu auf und werden letztendlich doch nicht aufgelöst. Deren Vielzahl ist ein Zeichen für die tendenzielle Schwäche der Regierung. Plötzlich schien auch ein Hauch von Gezi in der Luft zu liegen. Nicht nur, weil die Regierung plötzlich 700 X-Accounts sperren ließ. Sondern auch wegen der fantasievollen öffentlichen Bildsprache der Demonstrierenden.
Zu einem der beliebtesten Bilder im Internet avancierte das eines Studenten, der mit dem Rücken zu einer Phalanx der berüchtigten "Toma"-Panzerfahrzeuge der Polizei auf dem Asphaltboden sitzt und ungerührt Jean-Jacques Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" liest. Ikonisch auch das Bild des Reuters-Fotografen Ümit Bektaş, der einen als Derwisch verkleideten Demonstranten zeigt, der mit Gasmaske der Polizei trotzt.
Die Künstlerin Satrayni verarbeitete die bizarre Szenerie sogleich zu einer Bilderserie im Stil der nahöstlichen Miniaturmalerei. "LeMan", die älteste Satirezeitschrift der Türkei, setzte Dilek İmamoğlu, die Ehefrau Ekrem İmamoğlus und eine promovierte Feministin, im Stil einer Suffragette auf ihre Titelseite. Der Welt zeigt sie dort die geflexten Muskeln. Am kommenden Sonntag wollen die Istanbuler Kulturschaffenden in einer Vollversammlung über die Lage und die kommenden Schritte beraten.
Man trifft İmamoğlu in Galerien und Museen
Das Engagement der Kulturszene galt nicht nur einer Hoffnung auf die politische Opposition, sondern dem expliziten Kunstfreund İmamoğlu. Politikerinnen und Politiker aller Couleur instrumentalisieren die Kultur gern zweckdienlich für ihre Karriere. Dem Istanbuler Bürgermeister nimmt man die demonstrative Kunstsinnigkeit dennoch ab. İmamoğlu ist mit vielen Künstlerinnen und Künstlern befreundet, besitzt selbst eine eigene Sammlung mit 400 Werken, die er vor ein paar Jahren in der städtischen Galerie von Beylikdüzü zeigte - dem Stadtteil, in dem er als Bezirksbürgermeister seine politische Laufbahn begann. Auch der dortige amtierende Bürgermeister Mehmet Murat Çalık wurde verhaftet.
Bei jeder Gelegenheit betont der charismatische İmamoğlu die Kunst- und Meinungsfreiheit, ständig trifft man ihn in Galerien und Museen oder beim Rundgang auf der Kunstmesse Contemporary Istanbul. "Kultur ist der Motor, der mich treibt" – nicht zuletzt mit diesem Motto gewann er vor genau einem Jahr den Kommunalwahlkampf am Bosporus.
Dass derartige Slogans nicht nur Sonntagsreden sind, bewies er in den knapp sechs Jahren seiner Amtszeit. In der 16-Millionen-Metropole, in der Kunst und Kultur fast nur durch vermögende private Sponsoren florieren können, setzte er eine bislang unbekannte städtische Kulturpolitik durch. Seit seiner ersten Amtszeit ließ İmamoğlu rund 40 historische Gebäude in der Stadt restaurieren und zu Kulturzentren umbauen. Dazu zählen eine zum Müze Gazhane umgebaute alte Gasfabrik im liberalen Stadtteil Kadiköy. Im erzkonservativen Pendant Eyüp wurde eine alte, ottomanische Fes-Fabrik zur Kunsthalle Feshane Artİstanbul umgewandelt.
Anschubfinanzierung für öffentliches Kunsthaus
In Beykoz, am Ufer des Schwarzen Meers, geben die Silos eines ehemaligen Rohöllagers von rund 20.000 Quadratmetern Größe nun die Kulisse für das spektakuläre Museums-Projekt Çubuklu Silolar her, das von der Bevölkerung begeistert aufgenommen wurde. Am Goldenen Horn öffnete mit dem İstanbul Sanat Müzesi das erste öffentliche Kunstmuseum der Stadt überhaupt. Mit den spektakulären Privatmuseen Arter oder Istanbul Modern der Industriellen-Familien Koç und Eczacıbaşı kann es das kleine Haus in einer alten Werft noch nicht aufnehmen. Zur Eröffnung steuerte der Kunstliebhaber İmamoğlu aber ein paar Werke der eigenen Sammlung als Anschubfinanzierung bei.
Viele dieser Gebäude stehen in konservativen Stadtteilen von Istanbul und dienen, neben der Funktion als Ausstellungshalle, auch als öffentliche, frei zugängliche Bibliotheken. Alle können unangemeldet hinein, den Laptop auspacken, ein Buch ausleihen, lesen und arbeiten. Auch an vielen Fähranlegern am Bosporus, an denen die Menschen viel Wartezeit verbringen, wurden Bibliotheken eröffnet.
İmamoğlus kulturpolitisches Ziel lautet: Sicherung des reichen kulturellen Erbes der Stadt, Bildung, Kunst und Kultur für alle, Einsatz für Aufklärung und "freies Denken". So formulierte er es Ende Januar bei der Eröffnung einer Retrospektive seines Künstlerfreundes Ahmet Güneştekin vor hunderten von Kulturbegeisterten.
Kulturlandschaft in Gefahr
Die Gefahr, dass diese einzigartige neue Kulturlandschaft nach der Verhaftung İmamoğlus unter die Räder kommt oder geschlossen wird, liegt auf der Hand. Zumal auch der Kunsthistoriker Mahir Polat, einer der Stellvertreter İmamoğlus und das brain der kulturpolitischen Strategie, inhaftiert wurde. Genauso erging es Murat Abbas, dem Generalmanager der Kulturorganisation der Stadt, İBB Kültür AŞ. Der ehemalige Musikmanager, einer der bekanntesten seines Landes, leitete vor seiner Zeit in der Stadtverwaltung die Istanbuler Musikzentren Babylon und Zorlu Center, genau wie Pozitif, den wichtigsten Kulturevent-Veranstalter. 2020 wechselte er in die Dienste von Bürgermeister İmamoğlu.
Nicht auszuschließen, dass alle diese Kulturorte per Präsidenten-Dekret der städtischen Kontrolle entzogen und religiösen Stiftungen übereignet werden. In Istanbul gibt es dafür viele Beispiele in den letzten Jahren - wie beim historischen Galata-Turm oder dem Kulturort Bomonti-Brauerei im CHP-Stadtteil Şişli. Noch postet die Stadt auf den Social-Media-Accounts von IBB Miras, der Kulturerbe-Organisation, der die neuen Locations unterstehen, das laufende Programm. Die Zukunft bleibt dennoch unklar.
Es mag luxuriös erscheinen, sich ausgerechnet Sorgen um ein paar Museen und Kunsthäuser zu machen. Schließlich geht es um einen Anschlag auf die türkische Demokratie als Ganzes. Hinzu kommt das ungewisse Schicksal von İmamoğlu selbst. Doch die Kulturinstitutionen sollten einen allmählichen Bewusstseinswandel auslösen, das Gefühl für Vielfalt und Offenheit vermitteln. Sie sollten Bausteine für die multikulturelle und demokratische Türkei einer Post-Erdogan-Ära sein – sollte diese denn jemals kommen. Insofern ist der Kampf um Ekrem İmamoğlu auch ein Kulturkampf, ein Kampf um kulturelle Hegemonie.