Am Ende, zum Applaus, steht er in klassischer Ballettpose da, wie eine Tänzerin von Edgar Degas: einen Fuß vorne quer gestellt, den anderen in perfekter Balance hinten gekreuzt, eine Hand in einer Geste des Dankes elegant über die Brust gelegt. Seinen Pullover hat er sich um die Hüften geschlungen – kurz vorher war er noch nackt und hat dem Publikum sein Geschlecht geradezu ins Gesicht geschleudert.
Vor wenigen Augenblicken war Tiran Willemse noch der Inbegriff des kontrollierten Kontrollverlustes, hat sich vor den Augen des Publikums geschüttelt, hat irre gelacht, die Augen gerollt und mit dem Kopf gewackelt wie das rassistische Klischee eines Schwarzen Performers. Er war großartig und wies in einer brutalen Geste der Zuschauerin dabei die Rolle der beschämten und faszinierten Voyeurin zu. Erst der Schlussapplaus erlöste er das Publikum – wir sehen den Tänzer wieder heil, kontrolliert, in klassischer Pose. Seltsam. Warum fühlt sich ein Körper in harmonischer Balletthaltung so beruhigend an, obwohl das Tanzstück, das man gerade gesehen hat, alles dafür getan hat, dieses Bewegungskorsett aus der europäischen Kulturgeschichte abzuschütteln und zu zerstören?
"Untitled (Nostalgia Act 3)" heißt das Solo, das Tiran Willemse während der Art-Basel-Woche in Paris in dem Avangardetheater La Ménagerie de Verre zeigte – und man wünscht sich sofort, mehr von diesem Künstler zu sehen. Willemse, in Südafrika geboren, hat in Brüssel und Bern studiert und mit Meg Stuart, Jérôme Bel, Wu Tsang oder Ligia Lewis zusammengearbeitet. Er lebt in Berlin und Zürich und wurde kürzlich mit dem Performancepreis Schweiz 2023 ausgezeichnet. Sein aktuelles Solo geht von dem Ballett "Giselle" aus, immer noch gern gespieltes Meisterwerk der Romantik aus dem 19. Jahrhundert – und ein einigermaßen verrücktes Stück, in dem es um wild tanzende Untote geht, um Tanzen bis zum Wahnsinn und Tod.
Marionette für den weißen Blick
Willemse eignet sich die klassischen Ballettposen an, als Schwarzer Mann in Trainingshose und Sweatshirt. Er probiert sich aus in den Sprüngen und Drehungen, er findet sich fast reibungslos hinein, als sei sein Körper wie gemacht dafür, weiblich, männlich, alles gleichzeitig – bis sich langsam andere Bewegungen einschleichen, die nicht mehr nur in den Himmel, sondern auch zur Erde gehen, bis afrikanische oder asiatische Tanztraditionen oder Posen aus der Geschichte der Popkultur hineinkommen.
Immer stärker rückt Willemses Körper in eine Position, die klar als die des Schwarzen Performers markiert ist. Plötzlich ist er der Tänzer aus der rassistischen Minstrel-Show der USA, er ist die Marionette für den weißen Blick, er spielt den Betrunkenen, den Irren, den anderen, schließlich offenbart er sich den Blicken nackt.
Die Virtuosität, mit der er die Bilder durch seinen Körper hindurchgehen lassen kann, ist atemberaubend. Dieser Tanz ist gleichzeitig Analyse, Aufbegehren und physische Höchstleistung. Und er hält der Betrachterin einen alles andere als schmeichelhaften Spiegel vor: als wäre es ihr Blick, der den Menschen auf der Bühne zur Selbstaufgabe treibt. Sie ist schmerzhaft, die Geschichte dieses Körpers auf der Bühne. Und es ist großartig, wie sie hier erzählt wird.