Künstlerin Thuy Tien Nguyen

Die Flecken, die nicht auszuwaschen sind

In ihren Skulpturen materialisiert die Künstlerin Thuy Tien Nguyen Erinnerung, auch an ihre Kindheit in Hanoi. Nun steht sie auf der Shortlist für den Young Generation Art Award
 

Egal wie begabt man ist, der Einstieg in die Künstlerkarriere ist kein Selbstläufer. Mit dem New Generation Art Award wollen wir jetzt Nachwuchskünstlerinnen und -künstler ins Scheinwerferlicht stellen. Der Preis, den das Unternehmen Degussa Goldhandel in Kooperation mit dem Monopol-Magazin auslobt, startete zur Berlin Art Week mit der Verkündung der ersten Shortlist. Mit HanGyol Kim, Lara Koch, Thuy Tien Nguyen, Boris Saccone und Allistair Walter wurden fünf Künstlerinnen und Künstler ausgewählt, die kürzlich ihren Abschluss an einer Kunsthochschule in Deutschland gemacht haben oder das in Kürze vorhaben und jetzt ihren Weg in die Kunstwelt finden müssen. Hier stellen wir nacheinander ihre Arbeit vor. Die Preisverleihung findet am 25. Februar 2025 statt. 
 

Die Fenster in Thuy Tien Nguyens Atelier in der Frankfurter Städelschule sind groß und hoch, es ist hell, und auf dem Zementboden sieht man die Spuren aus vielen Generationen. Die eindrücklichste stammt von der Künstlerin selbst: Ein handtuchgroßer, violetter Fleck ist unauslöschlich in das poröse, graue Material eingezogen – mit der hochpigmentierten Flüssigkeit hatte sie für ihre Abschlussarbeit gearbeitet.

"About the weight of a tragic eyelid" war ein Bassin, gefüllt mit jener tiefvioletten Tinte, wie sie in Vietnam gängig ist. Knapp über der dunklen Oberfläche hingen die polierten Spitzen länglicher Metallskulpturen. Diese Tinte, erzählt die 1993 in Hanoi geborene Künstlerin, werde in Vietnam von der ersten bis zur sechsten Schulklasse benutzt. Während der Zeit der französischen Kolonisation wurden lateinische Buchstaben eingeführt und lösten die Kalligrafie ab. "Besonders da, wo ich herkomme, ist Disziplin sehr wichtig. Gerade zu sitzen, ordentlich zu schreiben." Der Druck, die Strenge seien sehr spürbar gewesen. "Mit Disziplin drückten die Generationen vor uns Liebe aus. Das ändert sich gerade erst."

Jede und jeder mit vietnamesischen Wurzeln könne mit dieser spezifischen Farbe etwas anfangen, sagt die Künstlerin. Alle hatten sie als Schulanfänger die Flecken an ihren Händen, unmöglich abzuwaschen, eine kollektive Erinnerung an Anstrengung, Versagen und Fortschritt – insbesondere für sie, die als Linkshänderin umerzogen wurde.

Zucker als Nährstoff und Werkstoff

Thuy Tien Nguyen hat ein feines Gespür dafür, wie sich Erinnerungen in Material ausdrücken lassen. Mit einer Skulptur aus Zucker war sie auf der Documenta Fifteen vertreten. Sie nahm mit ihrem Künstlerkollektiv aus Vietnam teil, dem sie schon angehörte, bevor sie 2018 nach Frankfurt kam und in die Klasse von Haegue Yang an der Städelschule aufgenommen wurde. Zuvor hatte sie in Hanoi Fotojournalismus studiert, und auch da war sie bereits an persönlicher und kollektiver Erinnerung interessiert.

Die Zuckerskulptur, glänzend und tief bernsteinfarben, ist einem gedrechselten Stab nachempfunden, wie er für die Lehnen traditioneller Stühle aus Holz gemacht wird. Limonade aus Limette und Rohrzucker ist ein gängiges Getränk für Kinder in Vietnam und Zucker ein Werkstoff, den Thuy Tien Nguyen wegen seiner Wandelbarkeit und Vergänglichkeit spannend findet. "Es erinnerte mich sehr an meine Kindheit mit meiner Großmutter, die mir immer ihre ganz eigene Vorstellung davon erzählt hatte, wie die weite Welt aussieht. Am Ende ihres Lebens reiste sie nur noch von einem Stuhl zum anderen, und tatsächlich war sie nie im Westen gewesen."

Zu einem Rundgang, der jährlichen Abschlusspräsentation der Städelschule, zeigte Thuy Tien Nguyen im Treppen- haus der Hochschule Treppengeländer, die mit Metallösen in der Wand verschraubt waren, aber aus weichem und flexiblem Material bestanden, das wie für sie geschaffen war: Memory Foam aus der Produktpalette der Wohnkultur. 

Mit den Händen verstehen

Das Häusliche interessiert sie in letzter Zeit besonders. So entwickelte sie Paravents aus drei Elementen, deren Flächen noch einmal in sich gefaltet sind. Darauf bildet sie verfremdete Illustrationen von Tresoren für den Hausgebrauch ab. In Vietnam schließe man darin Dokumente ein, erzählt sie. Das Objekt Paravent liegt irgendwo zwischen Bildträger und Möbelstück, es soll etwas zeigen und zugleich etwas anderes verdecken. Die Abbildung des offenen Safes als Motiv stellt die Frage nach Werten und Sicherheit noch mal anders, und auch das sorgfältige Falten des Bildträgers ist eine weitere Geste von Sichtbarkeit und Verbergen. 

Eignet sie sich all diese Techniken selbst an, wie damals das Schreiben mit der rechten Hand? "Ich lege auf die Prozesse sehr viel Wert. Es mag idealistisch sein, aber beispielsweise die Arbeit mit dem Zucker wollte ich wirklich selbst erlernen, weil es mir so nah ist. Man versteht es besser, wenn man sich lange damit beschäftigt."