Da liegt ein Mann unter der Brücke. So wie viele Männer unter Brücken liegen. Aber doch anders. Er liegt in einem Bett unter einer Decke, die gemütlich aussieht. Neben dem Bett steht ein Holzboot, das mit Blumen bepflanzt ist. Am Ufer der Norderelbe in der emporwachsenden Hamburger Hafen-City eine selbstgezimmerte Küche mit kleinem Kühlschrank. Unter einer ausladenden Weide ein honiggelber menschenhoher Kegel. Als Großstadtbewohner ist man dieses Zögern gewohnt: Hinschauen oder wegsehen, wenn da jemand liegt, weil das, was man sehen könnte, schwer zu ertragen ist? Dieser Mann unter der Brücke will, dass man hinsieht.
Der Mann ist ein Künstler, den in den Nullerjahren manche als den neuen Andy Warhol bezeichnet haben. Der als "Asian Punk Boy" die New Yorker Kunstszene beherrscht, weiße Nerzmäntel und Federkrägen getragen und Gruppensex-Performances inszeniert hat. Der dann aufs Land in die Einsamkeit geflohen ist und nun langsam kleine Schritte zurück in die Kunstwelt wagt. "Ich bin eine Weile verschwunden", sagt Terence Koh nüchtern, während er am Störtebeker Ufer auf der sonnenwarmen Steinmauer sitzt. Er trägt schwarze kurze Cargohosen und ein schwarzes T-Shirt mit altersschwachem Saum. Von unten aus dem Fluss winken Menschen aus Motorbooten und Ausflugsschiffen zu ihm herauf.
Für einen Monat setzt sich Terence Koh wieder allen Blicken aus. Aber anders als früher. Für sein Projekt "Bee Chapel" lebt er bis Ende August in der Hamburger Hafen City. Schläft in einem Bett unter der Magdeburger Brücke (einen Sichtschutz hat er abgelehnt, nur ein gespanntes Segel soll seine Schlafstätte vor Nässe schützen). Frühstückt Brot aus der Nachbarschaft, das ihm ein Anwohner von gegenüber vorbeigebracht hat. Im schicken Design-Hotel auf der anderen Straßenseite ist ein Zimmer für ihn reserviert, das er allerdings nur im Notfall nutzen will. "Der Panic Room, sozusagen", sagt Kuratorin Ellen Blumenstein, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und Stadtplanung das Kulturprogramm der Hafen City entwickelt - und die auch Terence Koh nach Hamburg eingeladen hat.
Seine ständigen Nachbarn während der Frischluft-Residenz an der Elbe sind die ungefähr 10.000 Hamburger Honigbienen, die in dem mit Wachs bezogenen gelben Kegel wohnen. "Bee Chapel" nennt Koh diese begehbare Installation, in der eine Person bequem sitzen und (durch ein Netz vor zu engem Kontakt geschützt) in einen stetig wachsenden Bienenstock schauen kann. Innen sind die Geräusche der Stadt völlig ausgesperrt, das Summen des Schwarms, der sich gerade um die Aufzucht der Winterbienen kümmert, wird hypnotische Vibration. Wenn die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, leuchten die transparenten Wände fast unwirklich gelb. Der sakrale Titel der Kapelle wirkt dann gar nicht mehr so abwegig wie beim ersten Lesen aus der Ferne.
Ein Kraftort im Alltag
Terence Koh, der seinen ersten Kunst-Bienenstock 2015 auf seinem Grundstück im Bundesstaat New York gebaut hat, will mit der lebenden Skulptur einen Raum der Ruhe erschaffen. Eine Art Kraftort, der im Alltag für viele Menschen schwer zu finden ist. Egal, ob das Werk nun im bergigen Nirgendwo oder in einer der am schnellsten wachsenden deutschen Stadtentwicklungsgebiete steht. "Natürlich geht es mir auch um die Tatsache, dass die Bienen sterben", sagt er. "Ich denke, das bereitet uns allen Sorgen. Aber die Bee Chapel ist auch ein Ort, in dem man zur Ruhe kommen kann." Nach den ersten Tagen im Hamburg-Camp geben sich alle Beteiligten genügsam und guter Dinge. Terence Koh wünscht sich einen Ort ohne Eile und Stress. "Die Bienen sind low energy", sagt er, "und ich auch."
Beim Sprechen fliegt dem Künstler öfters eines der Insekten um den Mund. Terence Koh wischt es beiläufig mit der Hand beiseite, eher ein sanftes Umlenken als ein hektisches Wegwedeln. "Ich glaube schon, dass sie mich erkennen", sagt er. "Wir gewöhnen uns aneinander". Ihm geht es bei seinem Projekt auch um den Abbau von Angst. Die schon in der Kindheit injizierten Panik vor Bienen (die eigentlich gar nicht stechen, sondern nur ihre Ruhe haben wollen) genauso wie die Angst vor dem öffentlichen Raum und Begegnungen mit dem vermeintlich Fremden. Schon ein paar Tage nach der Eröffnung hat Terence Koh Stammbesucher. Ein paar seiner Gäste begrüßt er mit Umarmung, andere neugierige Vorbeispazierer dirigiert er ganz leuchtender Gastgeber in die Bienenkirche.
Seine Rolle in der "Bee Chapel"-Inszenierung sieht er eher funktional. Mehr Grundstücksverwalter als ein auferstandener Kunst-Superstar. Performance im Dienst der Bienen vielleicht, die er als Hauptdarsteller des urbanen Versuchsaufbaus sieht. "Mich braucht es eigentlich gar nicht", sagt er. "Ich bin nur ein Teil dieses Ökosystems."
Ellen Blumenstein widerspricht. Für sie hält Terence Koh alles zusammen und gibt dem Ort einen Herzschlag. Sie erinnert daran, dass der Künstler schon immer ein konzeptueller Performer war, dem es um Spiritualität und das Zusammenbringen von Menschen ging. Früher lag nur eine dickere Schicht Glitzer und Kunstwelt-Attitüde über diesen Ideen.
Die Frage bleibt, für wen Terence Koh in Hamburg performt. Die Hafen-City, zu der auch der neue Kulturtempel Elbphilharmonie gehört, ist ein rasant wachsender neuer Stadtteil, wo Bürotürme und eine "Hafen City University" auf diversen Wohnraum und Kulturprojekte treffen sollen – und die an manchen Orten zwischen den Baustellenbrachen dann doch wieder so kastig steril aussieht, wie überall, wo Geld von Immobilien-Investoren fließt.
Wertet Kunst hier also eine Kapital-Oase auf? Wird der kleine Uferabschnitt mit der Riesenweide, der jetzt so schön als Treffpunkt und verwuchertes Kunstrefugium funktioniert, danach noch attraktiver als hippes Strandbar-Gelände? Ellen Blumenstein versichert, dass hier etwas Besonderes passiert, weil die Kunst nicht als Schmuck für schicke Architektur, sondern als Lebensgrundlage einer Stadt von Anfang an mit gedacht ist. Terence Koh sagt, dass ihn die Ambivalenz seines Ausstellungsortes interessiert. "Mir ist es wichtig zu zeigen, dass hier mehr entstehen kann, als nur kapitalistisch genutzte Räume."
Die Kunstwelt ein Bienenstock
Die Bienen von Terence Koh sollen übrigens anders als bei vielen anderen urbanen Imkerprojekten keinen Honig produzieren. Das wäre wieder eine Form von Leistungsdruck, die nicht recht zu Kohs Entschleunigungskonzept passen will. Sowieso ist der Metapher des Bienenstocks eigentlich zu treffend für den Kunstbetrieb, um nur Zufall zu sein. Alle scharen sich um die Königin, viele arbeiten für wenige, und aus allen Produzenten wird buchstäblich Honig gesaugt, bis sie leer sind. "Früher wollte ich gern eine Drohne sein", sagt Terence Koh. "Aber die werden getötet, wenn sie ihren Dienst getan haben. Heute gefällt mir am besten, dass Bienen kein Ego haben."
Bis Ende August will der Künstler noch unter der Brücke liegen und im Schwarm der kommenden und gehenden Menschen und Insekten leben. Wenn er wieder in seine neue Heimat Los Angeles zurückgeht, soll am besten nichts übrig bleiben. Alle Requisiten sind geliehen oder werden weiter verarbeitet. Nur die Bienen sollen in der Hafen City bleiben. Sie finden ein neues Zuhause am Ökumenischen Forum direkt gegenüber.