Es war inzwischen August geworden, da sah ich jemanden mit einem weißen T-Shirt. Darauf eine weiße Neun mit rotem Schatten, darunter in roter Kursivschrift "Juni". Es gehörte zu einer Kampagne, mit der Wolfgang Tillmans, Tom Etherington, Scott King und andere Künstler zur Teilnahme an der Europawahl am 9. Juni aufriefen, um sich "rechtsextremen und antidemokratischen Stimmen in Europa entgegenzustellen". Das hat bekanntlich nicht besonders gut geklappt. Aber das T-Shirt ist immer noch da. Will man es jetzt, wo der Sommer noch nicht mal vorüber ist, immer noch tragen?
Seit seiner Emanzipation vom Unterhemd hat das T-Shirt für alle möglichen Botschaften herhalten müssen. Schon 1948 warb US-Präsidentschaftskandidat Thomas Dewey mit dem Aufdruck "Dew it with Dewey" auf der Brust für seine Wahl. Tillmans ist wohl eher von der britischen Modedesignerin Katharine Hamnett inspiriert, die in den 1980ern für ihre Slogan-T-Shirts bekanntgeworden ist, und von den Aktivisten der Aids-Koalition Act Up, die mit einer Vielzahl von Medien – darunter Kleidung – neue Wege bei Protestformen gingen. Doch das einfach herzustellende und zu bedruckende Kleidungsstück machte in den nun bald 100 Jahren seiner Existenz nicht nur Politik, sondern diente für alle möglichen Formen der Kommunikation: als Werbe-, Band-, Junggesellinnenabschieds-, Abi-, Logo-, Witz- und Fan-Shirt. Nur: Was damit machen, wenn der Abiturient zum "Erstie" wird, die Junggesellin verabschiedet, die Leidenschaft für eine Band oder Brand erloschen ist?
Diese Stoffartefakte müssen ruiniert werden – indem man sie trägt. "T-Shirts sind keine wertvollen Artefakte", schrieb der Mode- und Nachhaltigkeitsjounalist Alec Leach kürzlich in einem Artikel mit dem Titel "Destroy your t-shirts". "Sie sind ganz einfache Kleidungsstücke, und es ist deine Aufgabe als Mensch, in ihnen zu schwitzen, sie zu zerreißen, sie zu besudeln, sie regelrecht auszubeuten. Lebe dein Leben in ihnen." Ich musste beim Lesen an mein Raiders-Shirt denken, in dem ich nun schon 31 Jahre meines Leben lebe. Ich habe es 1993 im Berliner Europa Center gekauft, wo damals noch nicht allgegenwärtige Sports- und Streetwear aus den USA erhältlich war. Nicht, dass ich irgendwas über American Football wusste, aber die Los Angeles Raiders standen für den Gangsta Rap der West Coast, der wiederum in seiner trotzigen Härte gut zu Ostdeutschland 1993 passte.
Aus den Los Angeles Raiders sind inzwischen die Las Vegas Raiders geworden, Snoop Dogg ist ein Olympia-Maskottchen, und mit Streetwear kann man sich nicht mehr – wie in den 90ern – von Neonazis abgrenzen, die tragen sie inzwischen selbst. Der silberne Aufdruck meines T-Shirts ist abgeblättert, über dem I und D ist es aufgerissen. Wenn ich es anziehe, fühle ich mich zwar nicht wie der 17-Jährige, der ich einmal war, aber es verbindet mich doch mit einer Geschichte.
Vielleicht ist es das, was Käuferinnen und Käufer bei Urban Outfitters und H&M suchen, wenn sie ein neues, aber durch Einsatz von Chemikalien schon vor Erstverkauf verwaschenes Retro-Shirt mit verblassten Iron-Maiden-, Buffy- oder Golf-GTI-Aufdrucken kaufen: dass es einem das Gefühl gibt, Erfahrungen gemacht zu haben, ohne dass man die damit verbundenen Risiken, Anstrengungen und Verluste aushalten muss. Nirvana-Shirts gibt es bei Primark, Pull&Bear, C&A und bei Shein. Aber die Intensität dieser Band ist nicht ohne ihre Verausgabung zu haben. Neue Retro-Shirts sind wie ein Ziel ohne Reise, ein Preis ohne Kampf.
In einem Quartal bringt der chinesische Fast-Fashion-Riese Shein über 300.000 neue Produkte auf den Markt: Kleidung, die produziert wird, um nach einer kurzen Zeit weggeworfen zu werden. Neue Kleidung, die oft wegen einer künstlichen Patina vor dem ersten Tragen alt aussieht, die aber tatsächlich ein Vor- und Nachleben hat - in Sweatshops und auf Müllhalden. Anders als 1993 gibt es Streetwear heute nicht mehr nur an besonderen Orten, dafür wird sie durch ultrakurze Trend-Zyklen ad hoc begehrlich gemacht und wieder entwertet. An der Absurdität von Retro-Shirts, die eine lange Provenienz vortäuschen, lässt sich am deutlichsten erkennen, wie Konsumenten immer wieder Altes als etwas Neues verkauft wird.
"Weniger Dinge kaufen, bessere Dinge kaufen"
Durch die Verfügbarkeit kultureller Inhalte bewegen wir uns in einer Dauerschleife aus Vergangenheit. Das wäre eigentlich eine Chance, Altes wertzuschätzen – durch Recycling. Urban Outfitters ist da auf dem richtigen Weg und bietet nicht nur neue Retro-Shirts an, sondern tatsächlich alte Vintage-Kleidung: Nach eigenen Angaben kamen so allein in Großbritannien 175.000 Teile, die sonst im Müll landen würden, zum Verkauf in die Läden.
Ich habe selbst viele T-Shirts in die Altkleidersammlung geworfen, weil mir ein Aufdruck nicht mehr gefallen hat. Mein Rhyme-Syndicate-Shirt, auf dem der Pirat des Raiders-Logos mit Ice-Ts Gesicht und die Säbel mit Gewehren ersetzt sind, hätte ich mal lieber verkauft; eine frühere Version des Shirts aus Ice-Ts persönlicher Sammlung wurde gerade bei Sotheby's versteigert. Oft trage ich auch mein Raiders-Shirt nicht mehr, aber wenn, dann mit großer Freude. Hier ist es wirklich einmal gelungen, was Alec Leach im Monopol-Interview empfiehlt: "Weniger Dinge kaufen und bessere Dinge kaufen, sich um sie kümmern und sie wirklich lieben."