In den letzten Jahren lag auch im Kunstbetrieb ein Fokus auf Identität: Die Frage danach, wer jemand ist, wurde ein wesentlicher Bestandteil des Bemühens, inklusiver zu werden und neue Stimmen zuzulassen. Die Erkenntnis, dass man immer von einem bestimmten Horizont aus auf die Welt blickt, war für einige Menschen ganz neu, oft verbunden mit der schmerzlichen Erfahrung, allein aufgrund der eigenen Identität zum ersten Mal Widerspruch zu ernten.
Wie Positionierungen im sozialen Gefüge Erwartungen erzeugen, ist schon lange ein Thema in der Kunst von Raphael Sbrzesny. Wahrscheinlich erinnert ihn seine Arbeit zwischen Neuer Musik und bildender Kunst ohnehin ständig daran, wie unzuverlässig feste Einordnungen sein können. Der Künstler entwickelt klingende Skulpturen, die am Körper getragen werden, er erfindet Figuren – Eumel, König, Sohn, Arzt, Sophie oder "Principal Boy" –, um die herum er Videos, Skulpturen, Fotografien und Objekte gruppiert. Harnischartige tragbare Skulpturen spielt er wie Musikinstrumente, der Körper wird zum Instrument, mit dem der Künstler Varianten des eigenen Selbst und anderer Ichs aufführt. Seinen Körper – und Körper schlechthin – inszeniert er so als Entstehungsort einer subjektiven Geschichtsschreibung.
Raphael Sbrzesnys Werk zielt somit auch ins Herz identitätspolitischer Fragen, die viele Menschen seit einiger Zeit verstärkt beschäftigen. Aber wer ist Raphael Sbrzesny selbst? Wenn man von außen schaut, kann man doch – natürlich – einen authentischen Kern erkennen. Da ist der Junge, der zu Schallplatten trommelt, ein Talent, das sich wie von selbst äußert. Da ist der Schüler, der an Musikwettbewerben teilnimmt. Da ist der Student, der zwischen den Disziplinen wechselt und mit der jeweils einen über die jeweils andere nachdenkt. Da ist der Künstler, in dessen Werk es – unter anderem – um Geschlechtszuschreibungen, Herkunft, Rollen und Berufe geht.
"Herkunft schleppt man immer mit sich rum"
Geboren wurde Sbrzesny 1985 in Oberndorf am Neckar. Eine Waffen-Stadt, Sitz von Heckler & Koch. In seiner späteren Arbeit wird es immer wieder um Panzerung und den soldatischen Mann gehen, wenn auch ohne Bezug zu seinem Geburtsort. Er wuchs auf in der Nähe von Rottweil in Baden-Württemberg. "Meine Eltern haben immer als Selbstständige gearbeitet, für ihre Generation war diese Form der Arbeit noch ungebrochen mit der Idee von Selbstverwirklichung verbunden", erzählt Sbrzesny. Mutter und Vater stammen aus Arbeiterfamilien, die nach dem Zweiten Weltkrieg flüchten mussten und in Süddeutschland zunächst die Fremden waren. "Mein Opa, den ich selbst nicht mehr kennengelernt habe, war wohl ein phantastischer Handwerker, der immer dann willkommen war, wenn man ihn brauchte, dann aber als Epileptiker und wohl auch Alkoholiker später buchstäblich aus der sozialen Rolle fiel."
Ein Gefühl, das tief in der Familie gesessen habe: Wenn du einmal nicht mehr gebraucht wirst, fällst du durch das Raster. "Es gab für meinen Vater keine bürgerliche Sicherheit und nichts zu erben. Es existieren noch nicht einmal Papiere und Zeugnisse, die das Leben seiner Familie dokumentieren. Eine Arbeiterfamilie wandert immer auf schmalem Grat. Belastend ist dabei: Wo keine Zeugnisse sind, gibt's trotzdem keinen unbeschwerten Neuanfang gratis. Herkunft schleppt man immer mit sich rum."
Obwohl die Eltern sich aus ihren Herkunftsmilieus emanzipieren konnten, haben sie offenbar entsprechende Erwartung nicht auf ihre Kinder übertragen: "Den Druck habe ich mir dann schon selbst gemacht. Das hat vielleicht mit meinem nicht-deutschen Nachnamen zu tun, vielleicht damit, dass ich aussah wie ein Mädchen. Ich war ganz schmal und wollte mit elf Jahren lange Haare haben. Bis ich 16, 17 war, wussten viele erstmal nicht, welchem Geschlecht sie mich zuordnen sollten. Wenn bei Musikwettbewerben mein Name aufgerufen wird, drehten sich 80 Leute um und schauen mich an: das langhaarige Mädchen."
Schlagzeugspielen wurde ein "Fantasiebooster"
Raphael Sbrzesny konnte erst in der vierten Klasse lesen, aber hatte ein gutes Gehör. Jahrelang trommelte er im ehemaligen Kuhstall auf improvisierten Schlagzeugen zu Platten. Mit dem Gehörschutz aus der Schreinerei des Vaters klang das selbstgebastelte Instrument weniger scheppernd, fast wie ein Studio-Schlagzeug. Als er sechs Jahre alt war, fragten ihn die Eltern schließlich, ob er Unterricht nehmen will.
Schlagzeugspielen wurde ein "Fantasiebooster", wie er sagt, ein Mittel, die Unsicherheit zu überwinden, eine Möglichkeit, dazuzugehören und gleichzeitig einen Sonderstatus zu behalten. Ein hartes Regime: Sbrzesny durchlief Orchester, Musikvereine, Konzerte, Vorspiele. "Du kannst dich über Leistung da so reindienen. Abweichung okay, aber bitteschön dann was Besonderes leisten."
Das klassische Schlagzeug entwickelte sich seit Mitte der 1950er-Jahre, ausgehend von Karlheinz Stockhausen, der den ersten große Kompositionszyklus für Solo-Schlagzeug geschrieben hat. Sbrzesnys Unterrichtsbeginn fiel in eine Pionierzeit des Instruments, weil man nun an vielen Musikhochschulen Schlagzeug studieren konnte. "Wir haben damals als Zwölfjährige schon das Zeug gespielt, mit dem die Generation vor uns das Studium abgeschlossen hat. Das hat sich bis heute innerhalb von 20, 30 Jahren extrem ausdifferenziert. Auch mit uninteressanter Musik, die nur auf Effekt aus ist. Das liegt in der Natur des Instruments, weil es spektakulär ist. Aber eben auch mit ganz wegweisenden Kompositionen. Und so lernte ich also auch Noten."
Sprung auf eine neue Ebene
Der Schlagzeuginterpret ist immer wieder mit neuen Legenden der Notation konfrontiert. Jedes Stück muss wie ein neuer Notentext gelesen und gelernt werden, denn die Komponisten standen jedes Mal vor der Frage: Wie etwas notieren, das es noch gar nicht gibt? Die Redaktion des Notentexts ist deshalb vielschichtiger und komplexer als etwa die von einem Cello-Stück von Bach, bei dem es bereits mit den verschiedenen verlegten Ausgaben eine Historie von redaktionellen Veränderungen und Korrekturen gibt.
"Ich hatte mich oft gefragt, warum ich einen Wettbewerb gewonnen hatte", sagt Sbrzesny. "Ich konnte es doch nie so spielen, wie es da stand. Immer wieder gab es eine Diskrepanz zwischen dem virtuosen Stoff vor mir und dem, was ich auf die Bühne brachte. Das hat mich nicht nur irritiert, sondern auch bestärkt, weil ich den Eindruck hatte, ich kann irgendwas in den Auftritt legen, was mehr wert ist, als es komplett richtig zu spielen. Vielleicht hat es mit so einer Unsicherheit zu tun, dass ich nie an das völlige Aufgehen und Gelingen von Virtuosität glaube."
Raphael Sbrzesny hatte dadurch immer das Gefühl, dass in der Neuen Musik mit ihren komplexen Notationsformen eine bestimmte Produktionslogik eine große Rolle spielt, also die Entwicklung eines Motivs, das Aufschreiben, die Ausdifferenzierung, die Schichtung, der Probenprozess. "Ich wollte aber mehr über die Idee dahinter wissen, über die geschichtliche Ebene, den Kontext und weniger über die Maschinerie selbst, die nötig ist, um etwas auf die Bühne zu bekommen. In der Musik hat mich dieses kleinteilige Ausarbeiten von Sachen ermüdet."
Beim Einüben von Stücken nehme das Konzeptuelle und die Idee fünf Prozent ein, sagt er, der ganze restliche Produktionsprozess 95 Prozent. Könnte es da nicht irgendein Sprung geben auf eine andere Ebene? "In der bildenden Kunst hatte ich dann später das Gefühl, dass das zwar auch mühsam sein kann, man viel wissen und Diskurse und Praktiken verknüpfen muss, aber das Potenzial da ist, so einen Sprung zu machen."
Eine ganz frühe Videoarbeit, "Lobbing Potatoes at a Gong" von 2011, zeigt Sbrzesny, wie er beim Deutschen Hochschulwettbewerb Rodney Grahams "Komposition" spielt. Der 2022 verstorbene kanadische Künstler schmiss in einer Aktion in den 1960er-Jahren mit Kartoffeln auf einen Gong – was Sbrzesny vor den Augen einer erstaunten Jury re-inszenierte. Er wurde – kaum überraschend – nicht zur zweiten Runde des Wettbewerbs zugelassen. Doch das Konzept hatte hier schon längst über die stumpfe Virtuosität triumphiert, ein Sprung war getan.
Weg von der klassischen Hermeneutik!
Die Frage nach der Interpretation fand Raphael Sbrzesny befreiend, weil er sie lange nicht gestellt hatte. "Mir fiel auf, dass es zu diesem historisch informierten Interpreten, der das historische Material pflegt, eine zweite Interpretenfigur geben müsste. Wir brauchen eine Erotik der Interpretation, in Anlehnung an diesen Susan-Sontag-Begriff einer Erotik der Kunst, die sich genau gegen diese normierenden Formen von Interpretation gewendet hatte." Die New Yorker Intellektuelle hatte sich 1965 in ihrem berühmten antihermeneutischem Manifest "Against Interpretation" gegen die Gleichsetzung eines künstlerischen Werks mit seinem Inhalt ausgesprochen. "Und ich habe immer gedacht: Heute brauchen wir aber eine Körperlichkeit, etwas Intimes, etwas Überraschendes, Sprunghaftes, Zärtliches, Kraftvolles. Aber in der Interpretation." Also zwar auch weg von der klassischen Auslegungspraxis, aber stattdessen ein lebendiger Umgang mit Material, Appropriation Art, Dinge kombinieren, collagieren. "Präsenz, mit Materialien und Ideen und Konzepten, die wir uns voneinander leihen."
Das erinnert wieder an das Kind, das zu Platten zu trommelt. Aber es trifft auch für jeden Künstler, jede Künstlerin zu, auch wenn sich viele dessen nicht bewusst sind: dass man immer ein Ausgangsmaterial hat, dass niemand aus sich selbst heraus schöpft, sondern immer in der Geschichte steht und sich in sie einschreibt. "Mir gaben Referenzen immer eine Paten-Funktion", sagt Raphael Sbrzesny, der auch bei Interviews Bücher um sich ausbreitet, um so einen Kontext sichtbar zu machen, aus dem er spricht. "Wenn ich eine Platte auflege, dazu Schlagzeug spiele und mich nachträglich in diese Studio-Produktion einschreibe, dann behaupte ich eine Autorschaft, ohne eigentlich eine Autorschaft behaupten zu können. Und man könnte weiterfragen: Wenn man nicht in einem bürgerlichen Umfeld aufwächst, in das man immer zurückfällt und das einem eine bestimmte Sicherheit vermittelt, ist dann so eine Interpreten-Figur ein Trick, um die Klasse zu wechseln, ohne die Klasse zu wechseln, in ein bestimmtes Milieu vorzudringen, ohne sein eigenes Milieu zu leugnen? Wenn du die Figur des Professors erfindest, des Popstars, des Künstlers, ein ganzes Portfolio, ein eigenes Personalbüro."
Das ist das Fundament der Arbeit dieses Künstlers: Mit der Idee des emanzipierten Interpreten kann er die eigenen Arbeiten anhand von Figuren immer wieder neu zur Aufführung bringen. Dieser Herangehensweise liegt ein postmoderner Identitätsbegriff zugrunde. "Aber es bleibt der Verdacht, dass es auch ein Trick ist, um sich bestimmte Fragen nicht zu stellen."
Was für ein Privileg etwa, in Zusammenhängen aufzuwachsen, in denen Talent erkannt wird und gefördert wird! Für Sbrzesny ergab sich die Möglichkeit, schon während der Schulzeit an der Musikhochschule zu studieren. "Mein Schulbus fuhr immer an der Stadt vorbei, in der die Hochschule war. Und ich bin morgens dort ausgestiegen und war dann zwei, drei komplette Tage in der Woche in der Hochschule. Abends habe ich dann versucht, den Unterrichtsstoff nachzuarbeiten, den meine Zwillingsschwester mir aus der Schule mitgebracht hat. In der Schule hat man das irgendwann akzeptiert."
Musik als Subjektivierungsmaschine
Als später die Popliteratur in Deutschland aufkam, hat Sbrzesny sich gefragt, ob man den klassischen Musikbetrieb auch irgendwie neu aussehen lassen kann, so wie es Schriftsteller wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre mit dem Literaturbetrieb gemacht haben. Damals fing er wie einige andere Schlagzeuger an, DVDs zu produzieren und versuchte einen Crossover zwischen klassischem Betrieb, populären und experimentellen Formaten. "Ich wollte meine Musik mit Architektur, Mode und Literatur zusammenbringen. Musik als Subjektivierungsmaschine, als multidisziplinäre Kunstform denken. Das war in der Klassik aber schwierig."
Also stolperte der 19-Jährige in den Kontaktstudiengang für Popularmusik an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg hinein – aus einer Branche kommend, wo man mit 14 schon wusste, dass man mit 24 Solo-Hornist im Orchester sein wird. "In diesem Popkurs habe ich Leute kennengelernt, die keinen Plan B hatten, sondern einfach Musik machen wollten."
Trotzdem hat er dann mit dem Studium des klassischen Schlagzeugs in Stuttgart angefangen. Dass er in der klassischen Musik immer an das Medium auskomponierter Musik gebunden war, empfand er allerdings weiter als ein Problem. Deshalb studierte er zusätzlich parallel an der Kunstakademie bei Felix Ensslin, Olaf Nicolai und Christian Jankowski bildende Kunst und Theorie. "Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, jetzt alles verknüpfen zu können: Psychoanalyse und Magie, eine alte Unterhose und Stockhausen. Und wenn das clever ist, dann wird das irgendjemand ausstellen und wir machen einen Katalog."
"Privilegien-Karneval statt Privilegienscham"
Und dieser fluide Umgang mit Material und Gattungen hat sich fortan durch die Arbeit durchgezogen. Vier kurze Szenen für einen Spieler, Stahlkorsett, Pfauenkostüm und tragbaren Lautsprecher – so kann ein Grundriss für eine Performance aussehen. In der Videoarbeit "L'histoire du Soldat", die an Igor Strawinskys "Geschichte vom Soldaten" angelehnt ist, sitzt der Künstler als Militärtrommler auf einem Pferd und spielt sein Instrument in prekärer Lage, das Reiterstandbildhafte droht zu entgleiten. In Sbrzesnys Werk stehen Neuinszenierungen und Neuinterpretationen klassischer Musikstücke oder von Werken Samuel Becketts und John Cages neben slapstickhaften musikalischen Turnübungen.
Zusammengehalten wird dieser bis zum Bersten gefüllte Referenzraum durch die allem übergeordnete Figur des emanzipierten Interpreten. Als Sbrzesny dann selbst lehrte, von 2018 bis 2023 als Professor für "Kreation und Interpretation mit den Schwerpunkten Sound, Performance und Konzept" an der Hochschule der Künste in Bremen, nannte er den Unterrichtsraum "Interpret*innenkammer". Hier wollte er einen spielerischen Interpretationsbegriff entwickeln, anstatt sich nur der Pflege historischen Materials verpflichtet zu fühlen. "Allerdings steht generell der Verdacht im Raum, dass nur bestimmten Individuen dieses Spiel mit Rollen zugänglich ist, dass wir es mit einem Privilegien-Karneval zu tun haben. Es wäre ein spannendes Gedankenexperiment zu fragen, warum sich gerade heute marginalisierte Gruppen offenbar immer weniger ermächtigt fühlen, stärker auch fluide Konzepte zu entwickeln. Warum Identitätspolitik, feste Gruppen und Zuschreibungen wieder attraktiv sind, im rechten wie im linken Spektrum. Die Situation scheint klar: Bist du in deiner Existenz verunsichert, hast du keinen Space fürs Spiel. Spielen können immer nur die Privilegierten."
Wer macht sich wie sichtbar?
Mit seiner wiederkehrenden Figur "Principal Boy" und des Attentäters bezieht sich Sbrzesny auf die Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015. Bei diesen islamistischen Angriffen ging es offenbar um eine ähnliche Frage: Wer verschafft sich wie Luft, wer macht sich wie sichtbar. Der Künstler zitiert den Philosophen Alain Badiou, der drei Subjekttypen unterscheidet: das westliche Subjekt, das Subjekt, das sich nach dem Westen sehnt, und das nihilistische Subjekt, das depressiv wird oder gar einen Terrorakt begeht. Gerade bei dem nihilistischen Subjekt gibt es diese extreme Wut auf die Menschen, die mit allem spielen, Alkohol trinken, ihre Sexualität ausleben oder queer sind. Auf das westliche, privilegierte Subjekt, das konsumiert, sich berauscht, auch an sich selbst.
Mit Rückgriff auf Franco Bifo Berardis Buch "Helden" folgt Sbrzesny dessen Analyse, dass wir entgegen individueller Dämonisierungen die Schreckenstaten der Terroristen als epidemisches Phänomen zu deuten haben: In ihrer Rache an der Gesellschaft treiben die Täter das gesellschaftliche Prinzip des survival of the fittest auf die Spitze. Für den Künstler bietet die performative Aktivierung dieser Figur etwa in der musiktheatralen Installation "Principal Boy" die Möglichkeit, Stress und überschüssige Energien zu binden und abzuleiten. Mit zuckenden Schlägen auf die Kupferrohre entstehen krampfhafte Klänge zu unserer von Nervosität, Verunsicherung und Überdruck bestimmten Zeit.
Mit dem "Principal Boy" lässt er eine frühe Effekt-Maschine des Theaters wieder auferstehen: in der Pantomime eine männliche Rolle, die von einer Schauspielerin in Jungenkleidung gespielt wurde und oft aus dem Boden auf die Bühne geschossen kam. Der Principal Boy verschafft sich Sichtbarkeit durch diese Maschinerie, ähnlich wie in einem terroristischen Akt, in dem sich die jungen, meist männlichen Attentäter zu einer extrem explosiven, blitzartigen Sichtbarkeit verhelfen.
Die Kunst kann vielleicht eine vierte Subjektivierungsmöglichkeit sein, die den Druck aus den Körpern nimmt. In der Lehre (seit Anfang des Monats ist er Studiengangsleiter und Professor im neu gegründeten Master für Musik und Szene in Transformation an der Musikakademie Basel), in der eigenen Kunst, in der Wahrnehmung von Welt geht es Raphael Sbrzesny jedenfalls immer darum, Biografisches und Gesellschaft performativ zu mischen. "Privilegien-Karneval statt Privilegienscham" nennt er es, "aber nicht als Selbstzweck, sondern um in der Welt, in der wir scheitern, neue Sinnzusammenhänge zu stricken."
Dem Text liegen mehrere Gespräche zwischen dem Autor und dem Künstler zugrunde, die in Interviewform unter dem Titel "'Privilegien-Karneval' und Erotik der Interpretation. Ein Gespräch über Herkunft, schwäbische Leistungsgesellschaft und eine performative Praxis zwischen Musik und bildender Kunst" in "Was vom zweiten Körper übrig blieb" von Raphael Sbrzesny bei Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2024 erschienen sind