Man muss Martin Eders Werk "The Unknowable" gar nicht mögen, um eine Erkenntnis mitzunehmen aus dem Streit, der in den letzten Jahren um dieses Bild entbrannt ist: Die Kunst ist gerade durch ihren Zweifel und ihre Schwäche größer als der tägliche aus einer anderen Richtung hereinwehende Shitstorm.
Der britische Künstler Daniel Conway, verstärkt durch den Shitstorm-Generator Diet Prada, sah in Eders Gemälde von 2018 Anleihen aus einer seiner eigenen Computergrafiken. Tatsächlich, die beiden Berglandschaften mit dem Kirschbaum auf einem Felsvorsprung gleichen sich, nur dass sie bei Conway den eigentlichen Gegenstand seines Bildes darstellt, bei Eder den Hintergrund. Der Berliner Künstler hat vor die Landschaft noch ein Holzgeländer gemalt, einen Akt in Rückenansicht, ein Stuhlfragment und ein Vogel. Und in der linken oberen Ecke thront eine Ruine von Caspar David Friedrich über allem.
Gerade diese Anleihe bei dem großen Romantiker verweist überdeutlich auf eine künstlerische Praxis des Aneignens: Martin Eder stellt Pop und Kunstgeschichte, Kitsch und Kanon gegeneinander, und aus der Spannung zwischen den ganzen Gegensätzen entsteht der eigenartige (auch abstoßende) Reiz dieser Werke.
Jetzt hat das Berliner Landgericht entschieden, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit einem vorbestehenden Werk durch collagenartige Integration in ein neues Werk als Pastiche zulässig ist - und der Plagiatsvorwurf gegen Eder damit hinfällig. Jedes andere Urteil wäre auch nicht auf der Höhe der Zeit gewesen. Dass Malerei heute immer Zitat, Pastiche, Collage ist, ist so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr thematisiert werden muss. Stile, Techniken, Malweisen stehen zur freien Verfügung. Selbst der Status, Maler oder Malerin zu sein, kann schnell mal wie mit einem Klick geändert werden: Man macht heute Kunst, und manchmal ist die eben gemalt, ein andermal nicht, kein großes Ding.
Zum rechtlichen Status der gängigen künstlerischen Formen von Aneignung gab es in den vergangenen Jahren verschiedene Auslegungen durch die Gesetze verschiedener Länder. Am prominentesten wurde das Thema juristisch immer wieder am Appropriation-Art-Pionier Richard Prince durchgespielt. Daniel Conway behauptet, sein Bild, das er bislang nur als Abbildung vorweisen kann, 2013 gemalt zu haben. Aber ist er der Urheber? Oder hat er es aus der Joghurt-Werbung? Oder aus dem Universal-Film von 1998 "What dreams may come true"? Das Motiv des Kirschbaumes auf dem Kliff ist allgegenwärtig im Internet: Wer "cherry tree on a cliff" bei Google sucht, sieht es als Stockfoto, T-Shirt und sogar als Stickvorlage, die man bei Amazon bestellen kann. Malen nach Zahlen also.
In der Begründung des Gerichts heißt es deshalb: "Das Interesse des Beklagten, seine Meinung in der Gestalt collageartiger, referenzierender Übernahmen von vorhandenem Bildmaterial aller Art auszudrücken und dabei den für ihn nach eigener Darstellung und der Darstellung von Kunsthistorikern prägenden künstlerischen Stil zu pflegen, überwiegt das Interesse des Klägers an der Wahrnehmung seines Eigentums und seines Urheberrechts nach Vorstehendem deutlich."
"Mit kollegialem Gruß, nach Akteneinsicht Kieferbruch", möchte man hinzufügen.
Copy/paste-Kitschwelt
Wenn Martin Eder über seine Intention beim Malen dieses Bildes spricht, klingt es indes um einiges zärtlicher: "Es beschreibt den kalten Blick ins Jenseits, den Tod. Eine ältere Dame steht nackt – wie sie geboren ist – auf dem Balkon und blickt auf ein Bild, hinaus in eine collagierte vermeintlich unverständliche Welt. Eine Dystopie, der hässliche Abgrund – welcome to the other side. Sie fragt sich: Das soll das Jenseits, das Nachleben sein, das Paradies, für das es sich gelohnt hat, so lange zu leben? Nein, danke! Sie starrt in den Abgrund einer Copy/paste-Kitschwelt, die von einem chinesischen Geschenkpapier stammen könnte. Ich habe ganz bewusst dieses Motiv gewählt, denn ich fand es anonym und unfassbar hässlich. Genau richtig, um es in mein Werk zu integrieren, als Hintergrund, als Zitat, Bild im Bild."
Martin Eders Rechtsanwältin Christiane Stützle macht darauf aufmerksam, dass mit der jetzigen Gerichtsentscheidung "zugleich ein erstes Urteil zu der im Urheberrecht zwar seit langem anerkannten, aber erst seit Juli 2021 im deutschen Urheberrechtsgesetz (§ 51a UrhG) ausdrücklich normierten künstlerischen Ausdrucksform des Pastiches" erging. Von einem Pastiche spreche man, wenn ein existierendes Werk ganz oder teilweise oder auch ein typischer Stil in ein neues Werk übernommen wird und gleichzeitig eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet.
Die Kunstgeschichte hat sich über Jahrhunderte vom Zwang der Originalität freigearbeitet. Pastiche, Zitate, Kopien, Überschreibungen, Umdeutungen haben die Kunst wahrscheinlich weiter vorangebracht, als es die Idee der authentischen Schöpfung aus dem genialen Künstler-Ich je hätte tun können. Spätestens in der Appropriation Art der 70er-Jahre hat sich gezeigt, dass bewusst ausgeführte, exakte Eins-zu-eins-Kopien so viele interessante Fragen nach Autorenschaft, Freiheit und dem heutigen Individuum aufwerfen, dass sie unbedingt als künstlerischer Ausdruck wertvoll sind. Allein aus diesem Grund ist das Urteil aus Berlin absolut begrüßenswert.