Picassos Friedenstaube

Schwierige Zeiten für einfache Symbole

Bei Kundgebungen zum Ukraine-Krieg wimmelt es nur so von Friedenstauben. Nicht immer sind sie als Zeichen der Solidarität gemeint. Das von Picasso geschaffene Symbol geht durch eine schwierige Phase

Vielleicht ist die größte Stärke der Friedenstaube zugleich ihre größte Schwäche: Hinter dem offenen Symbol können sich viel Menschen versammeln. Zu viele? Selbst Egon Krenz ist ein Fan. In einem Vortrag schwärmte der frühere SED-Vorsitzende 2019 von dem in der DDR verbreiteten Kinderlied "Kleine weiße Friedenstaube": "Es endete mit der Aufforderung: 'Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück.' Sie kam nicht mehr zurück, die Friedenstaube. Das Lied ward nur noch selten gesungen, seit es die DDR nicht mehr gibt. Und sie mochte wohl auch nicht zurück kommen in ein deutsches Land, das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten."

Heute, vier Jahre später und nach einem Jahr Ukraine-Krieg, scheint die Friedenstaube im Deutschland der Gegenwart allerdings wieder omnipräsent zu sein: auf Demonstrationen für und gegen die Unterstützung der Ukraine. Auf Bannern, Transparenten und Fahnen wird sie wohl auch am kommenden Wochenende in vielen Variationen zu sehen sein, wenn Menschen sich zu der von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht organisierten "Friedenskundgebung" vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammeln.

Die Friedenstaube mit dem Ölzweig im Schnabel ist eigentlich ein biblisches Symbol für die Harmonie zwischen Gott und den Menschen. Sie zeigt Noah auf seiner Arche, dass die Flut vorbei ist und das Leben weitergeht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum Symbol für die Friedensbewegung in Ost und West, als der Dichter Louis Aragon, Funktionär der Kommunistischen Partei Frankreichs, eine Taube von Pablo Picasso zum Plakatmotiv für den Pariser Weltfriedenskongress 1949 wählte. Aragon hatte sie in dem Atelier seines Freundes Picasso gesehen, der diesen Vogel liebte und ihn immer wieder malte und zeichnete. Nach dem Weltfriedenskongress ging sie um die Welt: auf Keramiktellern und Halstüchern, auf Plakaten und Lithografien. Und Picasso lieferte für die folgenden Weltfriedenskongresse in Paris, Berlin, Stockholm, Wien, Rom und Moskau eine neue Interpretation des symbolischen Tieres.


Wie Picassos politisches Engagement in der DDR hervorgehoben wurde, zeigte 2021/22 eine Ausstellung im Kölner Museum Ludwig: Seine Taube flatterte als Kulisse zahlreicher Parteikongresse, als Maskottchen, als Plakat 40 Jahre lang durch die Bildwelt des sozialistischen Staates. Bertolt Brecht ließ "die streitbare Friedenstaube meines Bruders Picasso" auf den Theatervorhang des Berliner Ensembles malen.

So verfestigte sich bei manchen das Gefühl, die DDR sei ein friedfertiges Land, obwohl wir schon als Siebenjährige im Sportunterricht Handgranaten-Attrappen werfen mussten, als Jungpioniere vormilitärisch geschult wurden und in der neunten Klasse im Wehrlager gedrillt wurden. Heute nennt Egon Krenz, der frühere Staatschef, Waffenlieferungen für die Ukraine eine "Lizenz zum Töten", und viele seiner früheren Landsleute treten im Zeichen der Friedenstaube ebenfalls für die Entsolidarisierung mit der angegriffenen Ukraine ein. 

Auch in der westdeutschen Friedensbewegung der 1980er-Jahre waren Picassos Tauben präsent, aber es dominierte doch die noch heute beliebte, logohafte Version des finnischen Illustrators Mika Launis: weiße Vogelsilhouette auf blauem Grund. Viele Menschen, einst unter diesem Banner gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten oder ihren Wehrdienst verweigerten, sahen in den letzten Jahr mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ihren Pazifismus erschüttert: Ohne europäische Unterstützung der Ukraine – also auch Waffenlieferungen – würde die Ukraine ihre Souveränität verlieren.

So ist die Friedenstaube heute beides: Aufruf zur Solidarität und Aufruf zur Nicht-Einmischung. Das Berliner Ensemble hängte den originalen Picasso/Brecht-Vorhang zum Kriegsbeginn vor einem Jahr wieder auf und wollte das ausdrücklich als Solidaritätsbekundung mit der Ukraine verstanden wissen. Sahra Wagenknecht hingegen bleibt vage, wenn es darum geht, ob zu ihrer Demo auch Rechte kommen dürfen, oder Leute, die in Sachen Ukrainekrieg Schuldumkehr betreiben. Die Friedenstraube hat entgegen der Befürchtung von Egon Krenz den Kalten Krieg überstanden. Wofür sie aber einst stehen wird, wird gerade auf der Straße verhandelt.