Noch ist der Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert im Inneren eine Baustelle. Aber was für eine: Schon jetzt ist zu erkennen, dass sich die zentralen Ausstellungsräume wie Aufzüge im Gebäude bewegen werden. Decken und Böden, insgesamt fünf Plattformen können abgesenkt beziehungsweise angehoben werden. Die variable Raumhöhe kann im Extremfall bis zu 13 Metern betragen. Das neue Haus der Fondation Cartier d‘art contemporain am Place du Palais-Royal 2 mit seiner denkmalgeschützten Fassade öffnete 1855 als Grand Hotel du Louvre seine Türen, und wurde später als die Grands Magasins du Louvre benutzt. Zuletzt beherbergte es als Louvre des antiquaires von 1978 bis 2018 einen Teil des Pariser Antiquitätenhandels. Ist der prominente neue Standort eine Antwort auf die Herausforderung durch die Fondation Louis Vuitton und die Collection Pinault? Vergleichsweise junge, aber äußerst finanzkräftige private Institutionen?
Alain Dominique Perrin, Präsident der Fondation, winkt beim Pressegespräch ab, nein, alles reiner Zufall, ausgerechnet der Finanzchef der Cartier-Gruppe habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass das Haus zu haben sei. Und weil Perrin als Marketingexperte weiß, dass der Standort alles ist, war die Entscheidung für ihn klar. Natürlich ist die Stiftung an diesem Ort nun ein wichtiger Akteur der urbanen Erneuerung des ersten Arrondissements, die mit der Eröffnung der Sammlung Pinault in der Bourse de Commerce, der Modernisierung und Restaurierung des Luxuskaufhauses La Samaritaine, begann und mit der Öffnung des Louvre zur Seine und zur Rue de Rivoli fortgesetzt wird.
Und einmal mehr kommt der Fondation Cartier eine zentrale Rolle im Bereich der zeitgenössischen Kunst zu, die in Paris zuletzt immer größere Aufmerksamkeit erhält. Dazu trägt der Zuzug der Niederlassungen vieler internationaler Großgalerien bei, neuerdings unterstützt durch Art Basel Paris, die jetzt, in ihrem dritten Jahr, erstmals im frisch renovierten Grand Palais eröffnete. 2022 hatte dessen Direktor, Chris Dercon, die traditionsreiche Kunstmesse Fiac aus dem 1900 erbauten Weltausstellungsgebäude vertrieben und durch die globale Schweizer Messemarke ersetzt. Heute ist Chris Dercon Direktor der Fondation Cartier d’art contemporain.
Ort des Experiments
Als Alain-Dominique Perrin, der als Präsident von Cartier das Image und den Umsatz der Marke mit neuen Produktlinien wie "Les Must de Cartier" revolutioniert hatte, 1984 die Fondation auf der Domäne Montcel in Jouy-en-Josas ins Leben rief, handelte es sich um die erste Unternehmensstiftung in Frankreich für zeitgenössische Kunst. Zugleich stieß er die Schaffung eines Gesetzes zum Kultursponsoring an. Sein disruptiver Innovationsdrang schlug sich auch in der Wahl einer ersten weiblichen Direktorin der Fondation nieder, Maire-Claude Beaud. Perrin und Beaud imaginierten die Fondation als Experimentierraum, in dem neue Werke entstehen und in dem sich Stars mit jungen, noch wenig bekannten Künstlern mischen, nach dem Konzept der Vorgruppe, das Perrin von einem Konzert von Sylvie Vartan mitgenommen hatte, bei dem die Beatles als Vorband aufgetreten waren.
Die Perspektive war international und transdisziplinär: Jean Paul Gaultier verwandelte 2004 das neue Pariser Haus der Fondation am Boulevard Raspail in eine Bäckerei, in der er wunderbare Pain Couture, also herrliche Baguette-Kreationen buk; Bernie Krause, Bioakustiker und der Mann am Synthesizer bei den Byrds und den Doors, inszenierte "Le grand orchestre des animaux", mit dem er 2016 die Besucher elektroakustisch in den Regenwald des Amazonas und die Tiefen des Pazifik entführte; David Lynch gestaltete 2011 das Design der Ausstellung "Mathématiques, un dépaysement soudain", für die unter anderem berühmte Mathematiker wie Jean-Pierre Bourguignon oder Cédric Villani mit Künstlerinnen wie Beatriz Milhazes und Patti Smith zusammenarbeiteten; und schließlich entwickelte Bijoy Jain mit Studio Mumbai eine Architekturausstellung ohne ein einziges Architekturmodell oder einen Entwurfsplan (2023).
Was am Boulevard Raspail nie gezeigt wurde, ist die Sammlung. Gespeist aus den Ankäufen der Ausstellungen, umfasst sie rund 4000 Werke von 500 Künstlern. Erstmals wird sie auf großzügigen 6.500 Quadratmetern am Place Royale zu sehen sein, direkt gegenüber dem Louvre, der jährlich 8 Millionen Besucher anzieht. Auf den drei Etagen, die von der Fondation belegt werden – Untergeschoss, Erdgeschoß und erstes Obergeschoss – finden sich neben Ausstellungsflächen für Wechselausstellungen ein Restaurant, eine Buchhandlung, ein Hörsaal und nicht zuletzt die Büros und Besprechungsräume für die Mitarbeiter der Stiftung.
Abschied vom Glashaus
Trotz der avancierten Gebäudetechnik an der Place Royale ist das Raumprogramm im neuen Haus letztlich konventionell. Das war 1984 anders. Der von Jean Nouvel entworfene Bau – ein achtstöckiges transparentes Glashaus im Grünen – ist als Ausstellungsraum eine Häresie. Das hatte sich Perrin von der Wahl Nouvels versprochen. Zugleich ist das Gebäude eine Feier der städtischen Moderne, wie sie sich Ende des 19. Jahrhunderts in nicht-musealen Ausstellungsräumen wie Schaufenstern, Weltausstellungen oder den von elektrischem Licht erhellten Cafés und Restaurants manifestierte. Eine riesige Glaswand, an Stelle der vorherigen 16 Meter langen Mauer entlang des Boulevard Raspail, treibt diese Reminiszenz auf die Spitze: Durch sie wird der Ausstellungsraum zum Ausstellungsobjekt.
Zunächst kommt aber ein anderes Ausstellungsstück hinter dem Glas zur Geltung: Lothar Baumgartens Theatrum Botanicum. Ein Wäldchen, das bis vor kurzem von einer 1823 von Chateaubriand am Boulevard Raspail 261 gepflanzten Zeder aus dem Libanon dominiert wurde, und sich sowohl in der Glaswand wie im Glas der Ausstellungsräume im Erdgeschoß spiegelt. Tatsächlich, so sagt Jean Nouvel, sei die Theorie des Hauses das Prinzip der Reflexion, die Überlagerung von Objekt und seinem Spiegelbild. Der Wald umgibt die Räume, dringt aber über die Spiegelung auch in sie ein, und so glaubt man den riesigen Textilwänden und den von der Decke hängenden skulpturalen Garngebilden, die derrzeit dort ausgestellt sind, in der Natur zu begegnen meint.
Olga de Amaral, deren erste große Einzelausstellung in Europa als letzte Ausstellung am Boulevard Raspail eröffnet hat, muss das sehr gefallen. Denn die kolumbianische Künstlerin hat schon zu Hause unter freiem Himmel gearbeitet und ihre textilen Kunstwerke auf die Wiese gelegt und in den Wald gehängt. Als eine der großen Pionierinnen der lateinamerikanischen Abstraktion nach 1945, arbeitet sie mit der Natur, mit ihren Fasern wie mit ihren Farben und sie arbeitet im Maßstab der Architektur.
700 mal 830 Zentimeter misst ihre "Muro en rojos" (1982), die sich in den Glasscheiben des Ausstellungsraums spiegelt und kaum zu unterscheiden ist vom roten Herbstlaub der Bäume, das sich ebenfalls darin spiegelt. Tausende kleiner Rechtecke aus Wolle und Roßhaar in den verschiedensten Farbtönen von Blaurot bis Rotweiß sind zu einem frei hängenden Teppich vernäht, der im Raum tatsächlich eine Wand bildet. Er ist eines der eindrucksvollsten Werke unter den rund 80 Arbeiten und wurde, wie die meisten, noch nie außerhalb Kolumbiens zu sehen.
Orange und Grau mehrfarbig verflochten
In der Ausstellung "Géométries Sud" in der Fondation Cartier waren 2018 bereits sechs skulpturale Fadengebilde aus der Serie "Brumas" (Nebel) entdecken. Nun beherrschen 23 der insgesamt 34 seit 2013 entstandenen "Brumas" den rechten Ausstellungsraum im Erdgeschoss. De Amaral knüpft tausende von Baumwollfäden, die sie mit malerisch aufgetragenem Gips oder Stuck verstärkt und in Teilen mit Acrylfarbe einfärbt, zu Platten, die sie in den Raum hängt. Die Fäden rieseln dann wie Regenschnüre von der Decke und zeigen die schönsten dreidimensionalen Geometrien.
Olga de Amaral lebt noch heute in Bogotá, wo sie 1932 geboren wurde. Sie studierte dort Architekturzeichnung, bevor sie 1952 in die USA ging, um an der Cranbrook Academy of Art in Bloomfield Hills Textil ihr Studium fortzusetzen. Ihre freien Arbeiten erregten von Anfang an Aufmerksamkeit. 1969 nahm sie an der Ausstellung "Wall Hangings" im Museum of Modern Art teil, zusammen mit Magdalena Abakanowicz, Annie Albers und Sheila Hicks. 1986 vertrat sie ihr Land auf der Biennale, auf der sie auch in diesem Jahr vertreten ist.
Beispiele ihre frühen Arbeiten finden sich im Untergeschoß, wobei die Werkchronologie bis 2019 reicht. Aus dem Jahr der MoMA-Ausstellung stammt der Wollteppich "Entrelazado en naranja y gris 'multicolor'", der bunte Schnüre ineinander verschränkt, um sie dann in rein orange und graue Webbänder verschwinden zu lassen, die wiederum ineinander verflochtenen sind und sich dann wieder in bunte Schnüre auflösen. Sie durchdringt also schon früh die ebene Fläche des Teppichs und dekonstruiert ihn in zwei, drei weitere Schichten, wofür sie ihre eigenen Werkzeuge und eigenen Flecht- und Wickeltechniken entwickelt. Die Strenge und Einfachheit des modernistischen Rasters verbindet sich mit der raffinierten Webkunst der Quechua-Frauen, von denen sie gelernt hat und die Olga de Amaral als "höhere Mathematik" versteht.
Sie experimentiert mit Materialien wie Plastikfolie, Japanpapier, Pergament oder Palladium. Umgekehrt setzt sie traditionelle Materialien und Techniken wie das extrem widerstandsfähige Rosshaar oder das zu ihrem Markenzeichen gewordene Blattgold in neuen Kontexten ein. Nicht weniger komplex als die Struktur ist die Textur ihrer Werke, entscheidend für deren immer wieder überraschendes Farbenspiel, das eben nicht nur Naturfarben, sondern mal giftiges Neongrün umfasst. Ihre Arbeiten verleiten dazu, sie Zentimeter für Zentimeter, Knoten für Knoten, Stich für Stich und Faden für Faden zu scannen, so diffizil und überraschend sind sie im Detail gearbeitet. Interessanterweise verliert man sich aber nicht im Detail und der Kunstfertigkeit. Man behält sehr wohl das Gesamtbild im Auge, den Entwurf in seiner räumlichen Funktion als Wand oder als Skulptur. Metaphorisch ausgedrückt: Man sieht die Bäume und man sieht den Wald. Ein stimmigerer Abschied vom Boulevard Raspail lässt sich kaum denken.