Ai Weiweis Deutschland-Bashing

Offene Türen im "Meinungskorridor"

Vor Mikrofonen hat er sich noch nie gefürchtet. Ai Weiwei beim Besuch des inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange in London  
Foto: DDR

Vor Mikrofonen hat er sich noch nie gefürchtet. Ai Weiwei beim Besuch des inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange in London  

Ai Weiwei will Berlin verlassen. Der Künstler beklagt, dass Deutschland keine "offene Gesellschaft" sei und kaum Raum für Debatten lasse. Dabei spricht er selbst zu beinah jedem Thema in jedes Mikrofon - und argumentiert dabei zumeist mit grobem Besteck. Ein Kommentar

Ai Weiwei will Deutschland verlassen – wieder einmal. Das hatte der in Berlin lebende Künstler bereits im vergangenen Jahr angekündigt. Seit 2015 arbeitet der chinesische Dissident in einer ehemaligen Brauerei im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. In einem "Welt"-Interview klagt er nun: "Deutschland ist keine offene Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die offen sein möchte, aber vor allem sich selbst beschützt. Die deutsche Kultur ist so stark, dass sie nicht wirklich andere Ideen und Argumente akzeptiert. Es gibt kaum Raum für offene Debatten, kaum Respekt für abweichende Stimmen."

Diese Sichtweise überrascht. Da ist zum einen die drastische Wortwahl: Wer "offene Gesellschaft" sagt, bezieht sich bewusst oder unbewusst auf das berühmte Gesellschaftsmodell des Philosophen Karl Popper, der davon in Abgrenzung zur totalitären, ideologisch eingekapselten Gesellschaft spricht, also faschistische, kommunistische und andere totalitäre Regime meint. Von jemandem, der im autoritären China aufgewachsen ist, dort immer wieder in Konflikt mit den Behörden stand, festgenommen und mit Ausreiseverbot belegt wurde, erwartet man, dass er den Unterschied kennt. Vergangenes Jahr wurde Ais größtes Pekinger Studio auf Anweisung der Behörden einfach abgerissen, ohne Angabe von Gründen. Könnte so etwas in einem Rechtsstaat wie Deutschland passieren? Wohl kaum.

Ai Weiwei mit Tellkamp-Logik

Zum anderen fragt man sich, was er mit der "deutschen Kultur" meint, die "nicht wirklich andere Ideen und Argumente akzeptiert". Das klingt sehr nach dem Phantasma einer Leitkultur. Es klingt auch nach dem "Meinungskorridor", den Konservative wie Uwe Tellkamp befürchten: Die "Tonangeber in weiten Teilen unserer Medien und unserer Kulturbranche" würden häufig "keinen Widerspruch" vertragen, meinte der Schriftsteller 2018, anderslautende Meinungen würden mit "Maßregelung" und "Zurechtweisung" bestraft. Die große Aufmerksamkeit, die Tellkamp für diese Äußerung bekam, und das folgende Hin-und-Her der Meinungen widerlegte ihn sofort.

Längst hat doch die durch soziale Medien getriggerte Erregungskultur auch Deutschland fest im Griff, Politiker, Bürger und Journalisten hauen sich "Ideen und Argumente" nur so um die Ohren. Kann sein, dass Ai Weiwei das gar nicht so genau mitkriegt, weil er sich eingebunkert hat. Vergangenes Jahr sagte er im "Tagesspiegel": "Mit meinem Untergrundstudio und meiner Unkenntnis der deutschen Sprache hat Berlin mir geholfen, die notwendige Abgeschiedenheit für meine Arbeit zu bekommen."

Überall sichtbar und hörbar

Falls er doch mal rauskommt, rennt er überall in Deutschland offene Türen ein: kann große und gut besuchte Ausstellungen wie zurzeit in Düsseldorf einrichten, wird von den Medien permanent zu allen möglichen Themen interviewt und von AfD-Politikerin Alice Weidel geliebt. Kein Platz für abweichende Stimmen?

Was also ist das Problem? Gefragt nach einem Beispiel für den engen Debattenraum berichtet Ai in der "Welt", dass er bereits drei Mal aus dem Taxi geworfen worden sei. Einmal habe es eine Meinungsverschiedenheit mit dem Fahrer um ein geöffnetes Fenster gegeben. Den Grund für die beiden anderen Rauswürfe nennt Ai nicht. Dass viele Menschen in Deutschland Diskriminierung erfahren, ist leider tatsächlich bittere Realität. Ai Weiweis Freund und Studionachbar Olafur Eliasson hatte einmal von ähnlichen Erfahrungen berichtet: "Meine Frau und ich haben beide Kinder aus Afrika adoptiert, und in Berlin ist eine ausgeprägte Phobie gegen dunkelhäutige Menschen zu spüren."

Rassismus ist keine Meinung

Doch wenn Ai an dieser Stelle wirklich von Rassismus spricht, wird er mit seiner pauschalisierenden Deutschland-Kritik leider nicht deutlich genug. Es hilft nichts, gegen vermeintliche "Meinungskorridore" zu wettern, wenn man Rassismus meint – Rassismus ist keine Meinung und nicht durch noch hitzigere Debatten in den Griff zu bekommen. Indem er eigene Diskriminierungserfahrungen hochrechnet auf die Gesamtgesellschaft und ihr die Offenheit abspricht, schadet er nur deren Diskursfähigkeit, weil er das durch Populisten ohnehin erschütterte Vertrauen in Behörden, Presse und Institutionen nur weiter annagt.

Wir dürfen gespannt sein, wohin Ai Weiwei ziehen wird. Er wolle gern irgendwo leben, wo es mehr Sonne gebe, sagte er im vergangenen Jahr. Nachvollziehbar. Nach einer großen Sehnsucht nach einer elaborierteren Debattenkultur klingt das allerdings nicht.