Nan Goldins Rede und die Folgen
Eine Rede der US-Fotokünstlerin Nan Goldin und Proteste in der Berliner Neuen Nationalgalerie haben die Debatte über Antisemitismus, Israel-Kritik und Meinungsfreiheit neu angefacht. Bei der Eröffnung einer großen Retrospektive ihres Werks hatte Goldin, die selbst aus einer jüdischen Familie stammt, Israel Völkermord vorgeworfen und auch Deutschland angeprangert. Es folgten scharfe Reaktionen unter anderem von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, äußerte sich im "Tagesspiegel" mit nur einem Satz: "Wer BDS einlädt, bekommt BDS." Das Kürzel steht für die gegen die israelische Palästina-Politik gerichtete Boykottbewegung "Boycott, Divestment, Sanctions".
Cornelius Tittel nutzt in der "Welt" die Aufregung für eine Generalabrechnung mit Nationalgalerie-Direktor Klaus Biesenbach, dem er Naivität und Arroganz vorwirft und dessen Rücktritt er fordert. "Das Glück hat Biesenbach in Berlin nicht gefunden, so erzählen es seine wenigen Vertrauten in der Hauptstadt. Und wie sollte er auch, in einem Job, dessen Anforderungsprofil so gut wie nichts mit dem seinen zu tun hat? Als Direktor eines Museums des 20. Jahrhunderts, der sich nicht für Malerei interessiert? Als selbst erklärter 'Cititzen of the World', für den deutsche Kunstgeschichte erst mit seiner früheren Lehrerin Katharina Sieverding beginnt?" Um diesen Punkt zu unterstreichen, benutzt Tittel unredlicherweise auch eine Aussage, die offenbar aus einer privaten Small-Talk-Konversation stammt, die über ein Jahrzehnt zurückliegt: "Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: der Mann, der auf der Eröffnung von Ronald Lauders Neuer Galerie in New York nach wenigen Minuten erklärte, er bekäme von Kirchner und Kokoschka Depressionen und müsse deshalb schnell auf die Party des (heute komplett vergessenen Szenelieblings) Terence Koh, ist jetzt verantwortlich für eine der wichtigsten Sammlungen der Malerei der Klassischen Moderne und Neuen Sachlichkeit – ohne auch nur das leiseste Gefühl für das Medium oder größere zeitgeschichtliche Zusammenhänge zu haben."
Dirk Peitz hingegen spricht in der "Zeit" Klaus Biesenbach ein Lob aus: "Der Direktor der Neuen Nationalgalerie wurde durch den Protest in seinem Haus in die Rolle eines Repräsentanten eines Staates gedrängt, der bis heute keinen wirklichen Umgang findet mit diesem Protest und mit Haltungen, die er als antisemitisch zu definieren und zu Recht zu ächten versucht – etwa mit einer letztlich hilflosen, vermutlich in ihren Auswirkungen auf die Freiheit von Kultur und Wissenschaft in Deutschland eher schädlichen Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens hierzulande. Biesenbach nahm diese Repräsentantenrolle an, indem er kerzengerade am Rednerpult stand und stur auf Englisch seine differenzierte Gegenrede auf Goldin hielt, obwohl sie akustisch niemand im Saal verstehen konnte. Biesenbach musste und wollte offenbar ein Zeichen setzen."
Stefan Trinks greift sich in der "FAZ" aus Nan Goldins Rede unter anderem die Behauptung heraus, dass seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland 180 Künstler wegen propalästinensischer Äußerungen gecancelt worden seien: "Nicht nur scheint Goldin dabei der Widerspruch nicht bewusst geworden zu sein, dass ihre Ausstellung in der Nationalgalerie stattfindet – wie der Namen bereits sagt, nominell das bedeutendste deutsche Ausstellungshaus. Kann man eine Retrospektive in der Nationalgalerie eines Landes für eine Künstlerin, die seit dem Hamas-Massaker wiederholt in New York mit propalästinensischen Protesten aufgefallen und zuletzt sogar dafür verhaftet worden war, als Canceln verstehen? Auch ansonsten könnte höchstens Goldins Kollegin, die südafrikanische Künstlerin Candice Breitz mit Wohnsitz in Berlin, ihr eingeflüstert haben, dass aufgrund ihres BDS-Eintretens für Sanktionen gegen Israel eine Ausstellung in Saarbrücken abgesagt worden sei. Die restlichen 179 behaupteten Boykottierten blieben bloßes Gerücht ohne jede Faktenbasis in der von dieser Zeitung überschauten deutschen Ausstellungslandschaft." Auch auf dem die Ausstellung begleitendem Symposium wurde über die Zahl 180 gesprochen, schreibt Julia Encke in der "FAZ". Auf Instagram sammele das sogenannte 'Archive of Silence' Fälle von 'Silencing' und 'Canceln' propalästinensischer Stimmen. "Sie habe über die Hälfte der Fälle nachrecherchiert, erklärte Saba-Nur Cheema. Und in vielen handele es sich nicht um 'Silencing' oder 'Canceln', im Gegenteil: 'So wird die Kritik an der TU-Präsidenten Geraldine Rauch erwähnt, die noch immer Präsidentin ist; die jüdisch-amerikanische Autorin Deborah Feldman taucht mehrmals in der Liste auf, obwohl sie kaum beklagen kann, in der Öffentlichkeit nicht gehört zu werden.' Und in sehr vielen anderen Fällen handele es sich um Künstler oder DJs, die Aufträge verloren haben, weil sie in sozialen Medien am 7. Oktober die 'Dekolonisierung' feierten, die Vergewaltigungen oder das Massaker selbst leugneten, bis hin zu Personen, die in ihren Instagram-Storys 'Israel soll einfach verschwinden' posteten."
Debatte
Der ZKM-Chef ist gegen Kunst als eigenes Schulfach: Um Kunst oder Kunstfertigkeit zum gemeinschaftlichen Lösen von Problemen nutzen zu können, sollte Kunst aus Sicht des Vorstands des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) in alle Schulfächer Einzug erhalten. "Anstatt 'Kunst' als separates Fach anzubieten, sollten wir Kunst nutzen, um alle Fächer zu unterrichten und Kreativität und Vorstellungskraft – oder 'Imagineering', eine Verbindung aus 'Imagination' und 'Engineering' – als grundlegende Lernmethode in allen Fächern begreifen: von Mathematik, Chemie, Physik, Geschichte bis hin zu Geografie und allem anderen", schreibt Alistair Hudson in einem Gastbeitrag für die "Badischen Neuesten Nachrichten". Das Bildungssystem im neoliberalen System habe sich auf persönliche Leistung und Wissenserwerb zur Kapitalvermehrung konzentriert, erklärte Hudson. Menschen lernten isoliert und als Einzelpersonen. Die Wissenschaft erfordere jedoch, voneinander zu lernen und Methoden zu entwickeln, bei denen Menschen zusammenarbeiten, um Kreativität zu fördern und Probleme zu lösen - auf eine Weise, die kognitive Vielfalt ins Spiel bringe. Kunst oder Kunstfertigkeit könnten der Schlüssel zur Lösung des Problems sein. "Nehmen wir zum Beispiel die Herausforderungen, vor die uns der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz stellt", schreibt der wissenschaftlich-künstlerische Vorstand des ZKM. "Es herrscht eine Atmosphäre der Angst in Bezug auf alles, was mit KI zu tun hat; dass sie die Macht übernimmt, dass sie zur Zerstörung der Menschheit führt oder zumindest all unsere Arbeitsplätze und unsere ganze Lebensweise ersetzt." Es sei unklar, wohin der Aufbruch führe. "Aber es liegt auch in unserer Macht, zu gestalten, was daraus wird oder welchen Einfluss KI haben sollte. So war es schon immer bei der Entwicklung neuer Technologien." Das ZKM wurde 1989 von der Stadt Karlsruhe und dem Land Baden-Württemberg als Stiftung des öffentlichen Rechts gegründet und will klassische Künste ins digitale Zeitalter fortschreiben. Damit hat es sich auch international einen Namen gemacht. Es verbindet Forschung, Sammlung, Produktion, Vermittlung, Ausstellungen und andere Veranstaltungen.
Kunstmarkt
Ein Rekord für Magritte, eine Banane für 6,2 Millionen Dollar – die New Yorker Auktionen waren reich an Schlagzeilen, das Ergebnis war aber trotzdem durchwachsen, bilanziert Anne Reimers in der "FAZ". Für das "Handelsblatt" fasst Barbara Kutscher die Auktionsergebnisse zusammen: Das Geld sitze mittlerweile wieder etwas lockerer in New York.
Das besondere Bauwerk
Die Schlagzeile klingt erstmal martialisch: "Putin schürt Kriegsangst in Europa: Das ist der Bunker-Plan für Deutschland", schreibt die "Bild-Zeitung". In ihrer Online-Ausgabe illustriert das Boulevard-Blatt den Artikel überraschenderweise mit dem ehemaligen Reichsbahnbunker in Berlin - der heute die private Kunstsammlung Boros beherbergt und auf dem auch die Wohnung des Sammler-Ehepaares thront. Könnten sich also bald wieder tausende Menschen zwischen Werken von Anne Imhof und Julius von Bismarck drängen? Schaut man hinter die Paywall, klingt das Ganze schon weniger dramatisch. Derzeit werde aufgrund der angespannten Lage durch den Ukraine-Krieg an einem nationalen Bunkerplan für den Notfall gearbeitet; zu den Maßnahmen gehöre auch, dass geeignete Gebäude erfasst würden und Privatpersonen zum Ausbau von Kellern oder Garagen ermutigt werden sollen. Die Familie Boros muss also nicht sofort mit massenhaft ängstlichen Besuchern rechnen. Man kann sich aber beim nächsten Ausstellungsrundgang (nur mit Anmeldung) besonders sicher fühlen.