Kunst und innere Erhabenheit

Halten wir stand, oder werden wir zertrümmert?

Kunst missverstehen viele als elitär und lebensfremd. Dabei bietet sie auch das Potenzial zu mehr Freiheit und fordert zur Selbstreflexion auf, ohne Besitzansprüche zu wecken. Unser Autor erläutert, wie dies gelingen kann

Wann waren Sie das letzte Mal von einem Kunstwerk ergriffen und wie fühlt sich das überhaupt an? Vielleicht so: Der Mund wird trocken, Tränen schießen in die Augen und man empfindet sich, auf eine seltsam unpersönliche Art, zugleich vernichtet und erhoben. Zeit und Raum verschmelzen zu einer neuen Dimension jenseits des messbaren Kontinuums; alles steht still. Die Ebenen der Zivilisationsversumpfung rücken in weite Ferne, und auch die Banalitäten der täglichen Überlebensscharmützel sind vergessen. Eine Empfindung der Reinigung, die mit den üblichen Maßstäben einer beschädigten Wirklichkeit nicht auszuloten ist. Das Kunsterlebnis aktiviert, im positiven Sinne, die Potenziale des Menschlichen als leises Echo eines poetischen Lebensgefühls, süß und souverän zugleich. Das behaupten zumindest die Romantiker.

Was tritt, wenn Alltagsexistenz zugrunde geht, an ihre Stelle? Eine Erleuchtung, ein Schauer, eine innere Läuterung? Jedes Kunsterlebnis ist religiös motiviert und birgt im Kern ein Erlösungsversprechen. Deshalb braucht, wer die Kunst hat, auch keine Kirche mehr. Es stimmt schon, die Kunst verfügt über eine ebenso geheimnisvolle und schicksalhafte Macht wie der Glaube oder die Liebe, die uns ereilen, ob wir es wollen oder nicht. "Heb mich auf deine höh / Gipfel – doch stürze mich nicht", heißt es in einem Gedicht Stefan Georges. 

Ein vielsinniges Wort, fast schon esoterisch, welches sich auch auf die Kunstbetrachtung anwenden lässt. Denn zum ästhetischen Erleben gehört (wie schon Shaftesbury, Kant und Burke bemerkten) auch das Erhabene, ja selbst der Horror. Furcht und Zittern sind niemals fern, wo vermeintlich Zartes und Zerbrechliches waltet. Die Kunst ergreift uns – und das ist mehr als nur eine bildhafte Ausdrucksweise. Halten wir ihr stand, oder werden wir von ihr zertrümmert? Kunst verfügt über die Macht, uns selbst zu dekonstruieren.

Freiheit zu Höherem

Weit davon entfernt, primär erotisch konnotiert zu sein, ist das Kunsterlebnis gleichwohl eine durch und durch sinnliche Erfahrung, die allerdings nichts mit den orgiastischen Entgrenzungserlebnissen eines Rockkonzertes oder einer berauschten Clubnacht gemein hat. Im Moment des Kunstgenusses ereilt uns die Ahnung, dass wir – bisweilen zumindest – zu etwas anderem berufen sind als zu billigen Zugeständnissen an unsere berufliche, familiäre und sonstige Umwelt. Kunst vermittelt das Gefühl unmittelbarer Freiheit. Womöglich Freiheit zu Höherem? Jedes Kunsterlebnis ist privat und subtil, innig und intim wie eine Umarmung; es birgt eine direkte Botschaft an uns: "Du musst dein Leben ändern" (berühmtes Rilke-Wort). Bloß, wie? Hier fangen schon die Schwierigkeiten an.

In einer Welt der digitalen Oberflächen und des ostentativen Materialismus löst die Betrachtung der Kunst keinerlei Begehrlichkeit aus. Musik ist ohnehin flüchtig. Eine "Nocturne" von Chopin lässt sich nicht besitzen; auch Michelangelos "Sterbender Sklave" würde sich in einem umzäunten Vorgarten etwas sonderbar ausmachen. Der Eindruck, etwas Vollendetem zu begegnen, setzt die interesselose Betrachtung voraus und hat nichts mit Besitz- und Kaufwünschen gemein.

"In meinem Elternhaus hingen keinen Gainsboroughs", schrieb Gottfried Benn; Galeriebesuche reichen für die Schule der Ästhetik vollkommen aus. Insofern ist das Kunsterlebnis das komplette Gegenteil zu den permanenten Verführungsangeboten der kapitalistischen Warenwelt. Ein Nachmittag im Museum gleicht eher einer Entgiftungskur. Auf das Mittelmäßige können wir jederzeit verzichten; auf das Vollkommene niemals, denn es weist über uns selbst hinaus und berührt das Mystische.

Diskurse ohne Rechthaberei

Schönheit und Ästhetik gehören, seitdem es Philosophie gibt, zu den Grundfragen menschlicher Existenz. "Schönheit allein leuchtet am meisten hervor", schrieb Platon im "Symposion". Sicherlich wird jeder unter Schönheit etwas anderes verstehen. Hier gibt es jede Menge Meinungen; aussichtslos, andere Menschen darüber belehren oder gar überzeugen zu wollen, was wir selbst als schön erachten. 

Doch anders als bei Fragen des kollektiven Handelns und der gesellschaftlichen Ordnung kennt die Ästhetik selbst keinen Antagonismus. Diskurse über Religion, Moral und Gesellschaft sind dagegen immer polarisierend und enden zumeist im Dissens. Es geht also bei der Frage, was schön ist, nicht darum, ob einer am Ende recht behält, sondern wie persönliches Erleben artikulationsfähig wird. Gespräche über Bücher, Musik und bildende Kunst haben daher – anders als politische oder weltanschauliche Diskurse – etwas zutiefst Zivilisierendes.

Kunst ist eine Projektion derer, die sie betrachten. Insofern können auch Albernheiten, Dilettantismus, Großsprecherei und Protest als ästhetische Errungenschaft gefeiert werden. Nachdem sich alle kanonischen Maßstäbe der Kunst aufgelöst haben, bleibt die große Verwirrung des Geschmacksurteils, die bisweilen ans Lächerliche grenzt. War das von der Moderne so intendiert? "Der Zeit ihre Kunst", lautet die bekannte Inschrift auf dem Wiener Gebäude der Secession. Man kann auch sagen, jede Gesellschaft und jedes Zeitalter bekommt genau die Ausdrucksform von Ästhetik, die zu produzieren sie in der Lage ist. In diesem strukturellen Sinn unterscheidet sich die Renaissance nicht von der Documenta. Genialität ist in Zeiten des "Midcult" sowieso ein obsoleter Begriff. Das alles muss einen nicht bekümmern, denn die letzten Reservate der Schönheit liegen ohnehin in ihrer Verinnerlichung.