Medienschau

"Der Vorhang geht auf – und die Frage ist: Wie sehen wir uns?"

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Bonaventure Ndikung über die Stimmung nach den Landtagswahlen, der Niedergang des Turnerpreises und "postapokalyptischer Karneval" mit Pierre Huyghe in Venedig: Das ist unsere Presseschau am Dienstag

Debatte

"Die Bundesrepublik ist eines der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt", sagt Bonaventure Ndikung, Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, im "Spiegel"-Gespräch mit Tobias Rapp anlässlich des AfD-Siegeszugs bei den jüngsten Landtagswahlen. "Rund ein Viertel aller Deutschen hat eine Einwanderungsgeschichte, bei Kindern sind es noch mehr. Aber in der Art und Weise wie in der Politik, auch am vergangenen Sonntag, über Deutschland und die Deutschen gesprochen wird, kommen sie so gut wie nicht vor. Es gibt sie nur als Problem, als Bedrohung oder als Arbeitskraft. Es scheint sehr schwer zu sein, zu akzeptieren, wie sehr diese Menschen längst das Land verändert haben." Er habe auch den Eindruck, "dass es sehr vielen Westdeutschen schon schwerfällt, zu respektieren, dass 'der Osten' anders ist und das auf Augenhöhe anzuerkennen. Und dass diese Blindheit nicht einmal bemerkt wird. Zum Beispiel, wenn bei Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit ausschließlich Westdeutsche auf der Bühne stehen. Das ist ein Problem. Ein Teil der deutschen Geschichte und ihre Versäumnisse werden unter den Teppich gekehrt. Und die Menschen im Osten finden sich nicht wieder, fühlen sich vernachlässigt und haben das Gefühl, nicht dazuzugehören." Es sei die "vornehmste Aufgabe" der Kunst, "das Unsichtbare der Gesellschaft freizulegen. Das Unbewusste. Der Vorhang geht auf – und die Frage ist: Wie sehen wir uns?"

Der britische Turner Prize hat seine Anziehungskraft verloren, findet Alastair Sooke im "Telegraph". Die Auszeichnung, die in diesem Jahr 40 Jahre alt wird, vermittele kein Gefühl der Dringlichkeit mehr. "Wenn die 1990er Jahre die aufregenden Jahre seiner frechen und mutigen Jugend waren - die Zeit von Hirsts halbierten, in Formaldehyd hängenden Tierkadavern, Rachel Whitereads brillantem Haus aus Gussbeton (1993) und Chris Ofilis schillernden Gemälden, die auf Elefantenmist gestützt sind -, so durchlebt der Preis jetzt eine Midlife-Crisis. Die Pandemie hat nicht geholfen, da die aufeinanderfolgenden Jurys aufgrund des Mangels an Ausstellungen bemüht waren, die Dinge am Laufen zu halten. Im Jahr 2020 gab es keinen Gewinner, stattdessen wurden zehn Stipendien vergeben. Im darauffolgenden Jahr wurden fünf Kollektive (aber kein einzelner Künstler) nominiert - vermutlich, um das Gemeinschaftsgefühl nach den Abriegelungen zu reflektieren. Für mich war dies der Tiefpunkt des Preises - auch wenn, wie der Direktor der Tate Britain, Alex Farquharson, der der Turner-Jury vorsitzt, sagt, die Jahre, in denen 'die Kunstwelt geschlossen war', 'eine sehr unruhige See waren, durch die man einen Preis navigieren musste'." Sooke hat auch ein paar Ideen, wie man den Turnerpreis vorm vollständigen Ertrinken in der Langenweile retten kann: kostenloser Eintritt in die Preisträgerausstellung, eine Übertragung der Preiszeremonie im Fernsehen und im Radio, die Ausweitung der Auswahl der Juroren über die Kunstwelt hinaus, die Vergabe alle zwei Jahre statt einer jährlichen Auszeichnung.

Nachruf

"Unfassbar wollte sie bleiben, unnahbar", schreibt Hanno Rauterberg in seinem "Zeit"-Nachruf auf Rebecca Horn, "und obwohl ihr manche nun vorwarfen, ihr Werk sei über die Jahre immer esoterischer geworden, kitschiger auch, verstand sie sich stets als politischen Kopf." In ihrer Kunst spüre man die "Geschichte eines beschädigten, leblosen Lebens – und wie es neu erwachte. Wobei es in ihrem Werk selten düster zuging oder abgründig wie etwa bei Bruce Nauman. Viel lieber versuchte sich Rebecca Horn im dadaistischen Spiel: Kehrt mal die Apparatehaftigkeit des eigenen Körpers hervor, dem lange Fühler wachsen, Stacheln, Hörner, auch Geweihe, manches erinnert an spätere Cyborg-Fantasien. Dann ist es umgekehrt, die Apparate menscheln, kratzen, fächern, klappern vor sich hin, einfach so, weil sie es können. Maschinen, die nichts produzieren, nicht einmal dreiarmige Pullover. Ein höherer Sinn ist da nicht auszumachen, keine Botschaft, die entschlüsselt werden will.  Und das ist das Schöne am Hornschen Kosmos: Hier haben die Dinge ihre Bestimmung überwunden. Sind frei. Aber haltlos sind sie nicht." Horns "geheimnisvolles, betörendes Werk gilt in Deutschland, dem Land, in dem sie lebte, als unverzichtbar", schreibt Alex Greenberger auf "Art News". "Dort war ihre Kunst ein fester Bestandteil von Ausstellungen wie der Documenta, der vielbeachteten Schau, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. Ihre Arbeiten wurden aber auch international gezeigt, von der Biennale in Venedig bis zum Guggenheim Museum in New York. Heute ist ihr Einfluss weithin sichtbar und reicht von Matthew Barneys rituell geprägten Filmen bis zu Pipilotti Rists schrägen Videos mit feministischen Untertönen."

Ausstellung

Einen "postapokalyptischen Karneval" und eine "Ausstellung als Performance" hat der Kunsthistoriker John-Paul Stonard in Pierre Huyghes' Schau "Liminal" in der Punta della Dogana in Venedig gesehen. "Die absichtlichen Entfremdung und die Besessenheit von realen und künstlichen, menschlichen und posthumanen Fragen haben etwas Kubricksches", schreibt er in der "London Review of Books". "Huyghe inszeniert einen epischen Zusammenstoß zwischen den Ursprüngen des organischen Lebens und seiner jüngsten (und vielleicht letzten) Manifestation in Form der empfindungsfähigen Technologie."