Debatte
Nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober hatte der Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage Lars Henrik Gass einen Aufruf zur Solidarität mit Israel gepostet. Der Wortlaut unter anderem: "Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind." Daraufhin wurden er und sein Festival mit Protest und Boykottaufrufen überzogen. Nun verlässt Gass seinen Posten nach fast 27 Jahren. In der "Welt" spricht er mit Hanns-Georg Rodek darüber, wie er die Anfeindungen erlebt hat: "An uns sollte offenbar exemplarisch demonstriert werden, wie hoch der Preis für eine Sympathiekundgebung gegenüber Israel sein kann. Im Kern sind solche Kampagnen ein soziales System von Belohnung und Bestrafung. Wer dem kulturellen Code widerspricht – ich hatte mich ihm entgegengestellt –, wird abgestraft. Wer ihn reproduziert, wird belohnt durch Gruppenzugehörigkeit sowie Zugang zu Ressourcen. Das nenne ich Konformitätsdruck. Abweichende Meinungen werden nicht toleriert." Weiter geht es in dem Interview auch um die geplanten - und bisher gesheiterten - Antisemitismusklauseln der Politik. Gass dazu: "Es geht nicht darum, ob diese oder jene Kunst gezeigt werden darf, sondern um die Frage: Besteht ein Anspruch darauf, dass offen rassistische oder antisemitische Aktionen und Einlassungen durch öffentliche Mittel gefördert werden? Meiner Meinung besteht keine Förderverpflichtung gegenüber Propaganda unter dem Schutz der Kunstfreiheit. Darauf zielte auch der Vorschlag des Berliner Kultursenators Chialo ab. Wir werden an Richtlinien nicht vorbeikommen, wenn sich etwas ändern soll. Und das hat nichts mit einem Eingriff in die Kunstfreiheit zu tun. Artikel 1 der Verfassung trägt uns vordringlich den Schutz der Menschenwürde auf."
Mit einem essayistischen Rundumschlag in der "Berliner Zeitung" reagiert der in Jena aufgewachsene Dramaturg und ehemalige Leiter der Berliner Festspiele Thomas Oberender auf die jüngsten Wahlerfolge der AfD. Dabei hält er fest, dass die Partei längst Einfluss auf die Kulturpolitik nehme, auch wenn sie bisher nicht an Regierungen beteiligt ist - und dass die demokratischen Parteien mit finanziellen Kürzungen bei freien Kunstorten die Schwächung der Szene vorantreiben. "Warum entsteht schon jetzt eine 'Deutschland zuerst'-Kulturpolitik, wie sie sich im aktuellen Haushaltsentwurf andeutet? Die AfD ist noch gar nicht an der Macht, aber schon mächtig durch den Druck in Richtung national- und identitätsorientierter kulturpolitischer Entscheidungen." Dabei macht sich Oberender auch für die Anerkennung von Kunstorten als Bühnen der Demokratie stark. "Das gemeinsame Haus zu erhalten darf nicht bedeuten, im Haushaltsentwurf die Orte einer pluralistischen Sichtweise zu schwächen, weil sie oft auch Troublemaker sind. Demokratie lebt vom Dissens. Die Angst vor den Zumutungen harter Kontroversen, wie sie jedes Drama im Inneren bestimmen, darf nicht zum Rückzugsargument für Kulturpolitiker werden. Weil Theater die Orte sind, in denen exemplarisch Konflikte ausgetragen werden, ohne eine Reduzierung ihrer Perspektiven und Motive, sind sie Orte, vor denen die Sprengstoffkoffer mit dem Hakenkreuz von der NSU abgestellt wurden."
Architektur
Bei Abrissarbeiten an der National Portrait Gallery in London fand sich vor Kurzem eine eingemauerte Botschaft des Spenders John Sainsbury: Er habe die fraglichen Säulen in dem nach ihm benannten Flügel sowieso nie gemocht. Für den "Tagesspiegel" überlegt nun Nikolaus Bernau, welche Bausünden in Berlin eine ähnliche Nachricht hervorzaubern könnten: "Wie gerne wäre ich der Bauarbeiter, der im Reichstag in der Fuge einer von Norman Fosters vielen Glasbrüstungen einen Dankesbrief entdeckt, dass uns Santiago Calatravas skelettartige Kuppel erspart blieb." Oder noch ein mueales Beispiel: "Oder der, der die eingegossene Fotoserie eines Bauarbeiters findet, die zeigt, wie der 'Grundstein' des superteuren und superunökologischen Museums der Moderne auf dem Kulturforum zwei Stunden nach der Zeremonie, als das Publikum weg war, wieder aus der gigantischen Baugrube herausgehoben und irgendwo beiseite gestellt wurde."
Ausstellung
Gleich mehrere Aha-Erlebnisse hat die "FAZ" in der Ausstellung zu Caspar David Friedrich in dessen Geburtstort Greifswald. Diese sei zwar nicht so prominent wie die Blockbuster-Präsentationen in Hamburg, Berlin oder Dresden, helfe aber dabei, die Werke des Malers zu lesen. Die Schau rankt sich nur um zwei Bilder, den "Greifswalder Hafen" und die aus Winterthur entliehenen "Kreidefelsen auf Rügen", geht bei diesen aber in die Tiefe und vermittelt viele Informationen zu Entstehung und Bedeutung, wie Jan Brachmann schreibt. "Der Friedrich-Forschung sind diese Details natürlich alle schon bekannt, den meisten Gästen der Ausstellung jedoch nicht. Und dieses konzentrierte analytische Verfahren als Ausstellungskonzept sorgt bei vielen für ein Aha-Erlebnis. Ruth Slenczka, die Direktorin des Pommerschen Landesmuseums, berichtet von der Reaktion einer Besucherin, die nach dem Rundgang ausrief: 'Ich habe die großen Friedrich-Ausstellungen in Berlin und Hamburg gesehen. Wäre ich doch bloß zuerst nach Greifswald gekommen! Ich hätte alles viel besser verstanden.'"
Das besondere Kunstwerk
Der Autor Florian Illies lässt der durch die Wahlen in Sachsen und Thüringen erstarkten BSW-Parteipatronin Sahra Wagenknecht in der "Zeit" einen höchst ehrenvollen Vergleich zukommen. Er rückt sie in die Nähe der vielleicht bekanntesten Büste der Welt: der Nofretete. "Wenn sie nicht sprach, verwandelte sie sich in eine unbewegliche Statue, ihre Gesichtszüge erinnerten in ihrer Feinheit und Strenge an die berühmte Büste der Nofretete – und ihr Dutt hatte, wohlwollend betrachtet, etwas von einer Königskrone", schreibt Illies über Wagenknechts Talkshowauftritte. Eine äußere wie politische Verwandtschaft schließt er dabei nicht aus - man kann nur hoffen, dass dies der ohnehin nicht gerade Selbstbewusstseins-armen Parteigründerin nicht noch weiter zu Kopf steigt: "Denn in der Religion des alten Ägypten war die spätere Reinkarnation von Herrschern eine relativ ausgemachte Sache, und mit diesem Wahlsonntag ist es Sahra Wagenknecht nun überzeugend gelungen, sich selbst als neue Nofretete ins Spiel zu bringen."