Ausbeutung in der Modebranche

Wer den Preis für den Luxus zahlt

Modenschau von Dior im April 2024 in New York
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Modenschau von Dior im April 2024 in New York

Ermittlungen in Italien haben kürzlich systematische Ausbeutung in der Lieferkette von Dior ans Licht gebracht. Was ist der größere Skandal? Dass das Haus in der Mode kein Einzelfall ist - oder dass es kaum mehr jemanden interessiert?

Wenige Taschen luxuriöser Modemarken wurden so oft kopiert wie die Dior Book Tote. Ein festes Canvas-Modell mit zwei kurzen Henkeln, über und über bedruckt mit dem Dior-Logo. Mittig ein breiter Streifen, auf dem "Christian Dior Paris" zu lesen ist. Oder auf Wunsch auch der eigene Name. 

Die Tasche, die mittlerweile in vielen Farb- und Größen-Variationen erhältlich ist, wurde von Kreativ-Direktorin Maria Grazia Chiuri entworfen und machte sich seitdem hervorragend in den Armbeuge etlicher Influencer, Stars und Sternchen. So simpel das Stoff-Objekt auch anmutet, so begehrt ist es. Ein Statement, das da lautet: Ich kann 2700 Euro für eine rechteckige, bestickte Strandtasche ausgeben. 

Unendlich viele kopierte Totebags in ähnlicher Musterung und mit gleichem breitem Streifen - jedoch anderem Markennamen und ohne das teure Logo - fluten seither Online-Stores und Strandshops. Hier bedienen sich diejenigen, die dem Trend folgen, jedoch den stolzen Preis nicht bezahlen wollen oder können. Jetzt kam jedoch heraus: In der Produktion bezahlt Dior nicht einmal 60 Euro für die Herstellung einer solchen Tasche, ein "Made in China"-Preis, mit "Made in Italy"-Stempel. Doch wie immer zahlt jemand dafür. Und auch in diesem Fall sind es diejenigen, die ganz unten in der Nahrungskette der Luxusmode stehen. 

"Eine allgemeine und konsolidierte Herstellungsmethode"

Mailändische Staatsanwälte hatten in den vergangenen Monaten den Einsatz von Drittanbietern in der Lieferkette Diors untersucht. Im Frühjahr deckten sie Betriebe in der Nähe von Mailand auf, in denen Arbeiter, oft illegale Einwanderer, für einen Hungerlohn und unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiteten, auch nachts und an Feiertagen in 15-Stunden-Schichten. Sie schliefen und aßen an ihrem Arbeitsplatz, um noch schneller noch mehr Produkte fertigen zu können. 

Von vielen Maschinen waren die Sicherheitsvorrichtungen entfernt worden, um das Produktionstempo weiter anzukurbeln. Dem Ableger der Unternehmensgruppe LVMH wird seither vorgeworfen, Herstellungs-Aufträge an chinesische Subunternehmen verteilt zu haben, die ihre Arbeiter und Arbeiterinnen systematisch ausbeuten und dadurch den extrem niedrigen Herstellungspreis garantieren können. 

Das Mailänder Gericht hatte daher im Juli angeordnet, die Produktionsprozesse bei Dior für ein Jahr unter gerichtliche Verwaltung zu stellen. "Es handelt sich nicht um etwas Sporadisches, das einzelne Partien betrifft, sondern um eine allgemeine und konsolidierte Herstellungsmethode", heißt es in Gerichtsdokumenten, die die Nachrichtenagentur Reuters einsehen konnte. "Das Hauptproblem ist natürlich die Misshandlung von Menschen: die Anwendung von Arbeitsgesetzen in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit, Arbeitszeiten und Bezahlung. Aber es gibt noch ein anderes großes Problem: den unlauteren Wettbewerb, der gesetzestreue Unternehmen vom Markt verdrängt", so Fabio Roia, der Präsident des Mailänder Gerichts. "Wenn es uns gelänge, die Ausbeutung von Arbeitskräften zu beseitigen, würden die Gewinne sinken, aber es könnte einen legalen Wettbewerb zwischen den Unternehmen geben."

Nicht darum gekümmert, wie die Ware so günstig produziert werden kann

Dior wurde nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, die Zulieferer jedoch schon. Trotzdem wurde festgestellt, dass die Luxusmarke fahrlässig gehandelt hat. Sie habe "keine geeigneten Maßnahmen zur Überprüfung der tatsächlichen Arbeitsbedingungen oder der technischen Fähigkeiten der Vertragsunternehmen" unternommen. Kurz gesagt: Das Unternehmen hat sich nicht darum gekümmert, wie ihre Ware so günstig produziert werden konnte. Hauptsache, sie konnte es. 

Luca Solca, Luxusgüter-Analyst bei Bernstein, rechnete dem "Wall Street Journal" vor, dass etwa 1300 Euro der 2700-Euro-Tasche rein operativer Gewinn sind. Dior hatte im Jahr 2023 einen Umsatz von rund 86,2 Milliarden Euro erwirtschaftet, so viel wie nie zuvor. Bernard Arnault, CEO der LVMH-Gruppe, und seine Familie liegen momentan laut Statista auf Platz vier der reichsten Menschen der Welt. Seine Tochter Delphine fungiert als CEO von Dior. Zahlen und Zufälle, die unangenehm aufstoßen. 

Und doch ist Dior kein Einzelfall. Erst im April wurden ähnliche Überwachungsmaßnahmen für ein Unternehmen angeordnet, das zu Giorgio Armani gehört. Auch hier wurde die Lieferkette nicht ordnungsgemäß überwacht. Die Ermittler hatten herausgefunden, dass die Subunternehmen den Arbeitern zwei bis drei Euro pro Stunden bezahlt hatten, um Taschen herzustellen, die für 93 Euro an Zulieferer weiterverkauft wurden, an Armani selbst für 250 Euro und letztlich im Geschäft für 1800 Euro zu haben waren.

Premiumpartner bei Olympia

In Italien wird weltweit die Hälfte aller Luxusgüter produziert. Viele tausende kleinere Unternehmen beliefern die großen, die sich so mit einem "Made in Italy" schmücken können. Einem Label, das für Qualität und Authentizität stehen soll, unter diesen Umständen aber kaum mehr etwas bedeutet. 

Die Frage ist nun: Ist der größere Skandal, dass eine solche Unterlassung hat stattfinden können und Arbeiter ausgebeutet wurden? Oder, dass es schon kaum jemanden mehr interessiert und Dior beim Einkleiden wichtiger Stars bei den Olympischen Spielen groß auffuhr? LVMH war der Premiumpartner der gigantomanen und äußert modeaffinen Sportveranstaltung. In einem Werbeclip auf seiner Website zeigt der Luxuskonzern Näherinnen und Näher in stilvollen Ateliers in der Pariser Innenstadt. Am Ende kommt der Schriftzug: "Stolz, die Exzellenz unserer Handwerker in den Dienst von Paris 2024 zu stellen." Das klingt nach dem Skandal fast schon zynisch.

Was ist also die Konsequenz? Unter einem Post des Instagram-Accounts @Dietprada diskutieren die Follower. Einerseits sei es klar, dass man bei den großen Luxusmarken einen riesigen Anteil für den Namen der Marke zahle. Andererseits sei es unverschämt, in welchen enormen Gewinnmargen diese Firmen rechnen. Denn egal, wie viel mehr Umsatz sie machen: Sie setzen die zusätzlichen Gelder kaum dafür ein, ihre Lieferketten zu verbessern, transparenter zu machen und ihre Arbeiter gerecht zu bezahlen. 

Schwer zu durchschauendes Geflecht

Was macht Luxus außer einem Logo und einem exorbitanter Preis noch aus? Wer mehrere Monatsmieten für ein Produkt bezahlt, vielleicht lange darauf spart, erwartet eine gewisse Qualität, mindestens. Und wie fühlen sich die, die die echte Dior Book Tote gekauft haben, nachdem klar ist, unter welchen Umständen sie produziert wurde und welche Qualitätsansprüche sie erfüllt? 

Lieferketten in der Luxusmode sind ein schwer zu durchschauendes Geflecht, das die Marke selbst oft nicht überblickt. Je kleiner das Haus, desto kürzer die Lieferkette, desto einfacher, sie transparent zu halten und zu verstehen. Je größer eine Marke mit Tausenden Lieferanten und Prozessen wird, desto länger die Wege und desto schwieriger die Nachvollziehbarkeit. Und umso leichter, die Stellen zu "übersehen", in denen Menschen für den eigenen Nutzen ausgebeutet werden. Wer solch einen Dumping-Preis jedoch fraglos hinnimmt, übersieht offenbar gern. 

Luxus-Mode, und gerade Taschen von Riesen wie Chanel oder Hermès, standen zuletzt immer wieder in der Kritik. Seit 2016 fand jährlich eine Preiserhöhung statt, die gesteppten Klassiker-Taschen von Chanel kosten heute doppelt so viel wie damals. Diese ökonomische Dreistheit, gekoppelt an Skandale wie die von Dior und Armani, könnten den Ruf der Luxusbranche schädigen und ihr Standing untergraben, sagte Alessandro Balossini Volpe, Professor für Wirtschaft und Marketing und Berater für die Luxusindustrie, dem Magazin "Forbes"

Ist letztlich alles das Gleiche?

Gleichzeitig sollen unethische Geschäftspraktiken seit Jahrzehnten ein offenes Geheimnis im Luxussektor sein. Immer wieder mahnen Nachhaltigkeitsplattformen wie @Remakeourworld, dass Luxusmode in denselben Fabriken hergestellt werde wie Fast Fashion. Ist es letztlich alles das Gleiche, nur zu unterschiedlichen Preisen? 

"Alle Luxusmodemarken könnten in den Verdacht geraten, kollektiv unethische und nicht nachhaltige Geschäftspraktiken anzuwenden", warnt Balossini Volpe. "Dies könnte ein sehr harter und kaum zu behebender Schlag sein, da dies bedeuten würde, dass nicht nur der materielle, intrinsische Wert der Produkte in Frage gestellt würde, sondern auch ihr immaterieller Wert, zu dem ihre Glaubwürdigkeit und Integrität gehören." 

Aus der Traum, den der Luxussektor seinen Konsumenten und denen, die gern dazu gehören würden, verkaufen möchte. Seit 2020 war der Umsatz der hochpreiseigen Mode weltweit jährlich gestiegen - und soll dies laut Statista auch weiterhin tun. Doch sollte sich das qualitativ hochwertige Image rund um die teuren Produkte nicht aufrechterhalten können, greifen vielleicht bald viel mehr Menschen nach dem Duplikat. Und senden so das Statement: Ihr wurdet durchschaut.