Protest gegen Olympia-Eröffnung

Das war niemals ein letztes Abendmahl

Die katholische Kirche und konservative Politiker wollen bei der Olympia-Eröffnung von Paris unbedingt eine Verhöhnung des Christentums erkennen. Doch es lohnt sich, die Szene genauer anzuschauen. Denn vieles spricht gegen diese Interpretation

Es dürfte ein bisschen her sein, dass in Deutschland der Begriff "Abendmahl" auf Platz eins der X-Trends stand; wenn es nicht sogar eine Premiere ist. Seit dem Wochenende ist jedoch genau das auf der Plattform, die früher Twitter hieß, der Fall. Und da es unwahrscheinlich ist, dass sich plötzlich tausende Menschen nach diesem heiligen Sakrament aus Brot und Wein sehnen, kann man so gut wie sicher sein, dass hinter der Diskussion um das christliche Ritual irgendwas mit Kulturkampf steckt. Und tatsächlich führt das vielgenutzte Wort zu einer erhitzten Grundsatzdebatte, in der sich der Vorwurf der Blasphemie, Leonardo da Vinci und ein schlumpfblau bemalter Künstler mit Obst auf dem Kopf begegnen. Aber der Reihe nach. 

Wenn sich die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele am Freitag zum Ziel gesetzt hatte, weltweit Aufsehen zu erregen, ist dieser Plan zweifellos aufgegangen. Gestandene Moderatoren weinten live on Air beim Auftritt von Celine Dion, und so ziemlich alle Experten verschiedener Kunst- und Musikrichtungen konnten sich ihre kulturhistorischen Ostereier aus dem vierstündigen Spektakel in ganz Paris herauspicken. Auch aus der bildenden Kunst hatte Regisseur Thomas Jolly reichlich Referenzen eingestreut. In einem Einspielfilm wurde die berühmte "Mona Lisa" von den "Minions" gestohlen und schwamm schließlich einsam auf der Seine, die Marseillaise wurde auf dem Dach des Grand Palais von der Mezzosopranistin Axelle Saint-Cirel vorgetragen, die mit der Hand an der französischen Flagge stark an die "Marianne" von Delacroix erinnerte. Außerdem waren am Ufer der Seine riesige Pappaufsteller berühmter Malerei-Figuren aus dem Louvre und Skulpturen einflussreicher Frauen der französischen Geschichte zu sehen. 

Dass jetzt alle über das Abendmahl reden, liegt jedoch an einem anderen Kunstwerk. Verschiedene Beobachter waren sich sicher, bei einer Voguing-Performance mit Drag-Queens an einem langen Laufsteg eine Referenz an "Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci erkannt zu haben. In der Szene tanzen verschiedene queere Performer um einen Catwalk herum, den man auch als eine sehr lange Tafel interpretieren kann. Eine DJ trägt zu ihrem weit ausgeschnittenen Kleid eine Sternenkrone, später tritt der französische Künstler Philippe Katerine als blauhäutiger Weingott Bacchus mit Fruchtdekor unter einer riesigen Servierglocke auf. 

Mehr "Jünger" als beim Abendmahl

Seitdem werden immer wieder Screenshots des Auftritts geteilt, nach denen die Komposition an da Vincis "L’Ultima Cena" erinnern soll. Dabei wäre die Performerin mit der Krone in der Mitte Jesus und die sich um sie gruppierenden Tänzerinnen und Tänzer die Jünger. Inzwischen hat sich nicht nur die katholische Kirche in Frankreich über die Eröffnungsfeier beschwert, auch internationale Politiker und Geistliche sowie der X-Eigentümer Elon Musk (so viel zum Abendmahl-Trend-Hashtag) beklagen eine "Verhöhnung des Christentums" durch die Inszenierung mit queeren Heiligen.

Nun kann man sich einerseits natürlich fragen, was an einer glitzernden Festtafel, an der offensichtlich alle willkommen sind, blasphemisch sein soll. Dem christlichen Wert der Gastfreundschaft wurde jedenfalls Rechnung getragen. Aber auch formal hält der Vergleich mit da Vincis letztem Abendmahl nicht stand - oder ist zumindest eine extrem verengte Lesart der Szenen. Wie schon Florian Eichel in der "Zeit" festgestellt hat, war der vermeintliche "Tisch" vielmehr ein Laufsteg, der sogar mit einem roten Teppich bedeckt war und auf dem mehrere "Voguing"-Performerinnen defilierten und tanzten. Außerdem passt die Anzahl der gezeigten Personen zu keinem Zeitpunkt zu Jesus und den zwölf Jüngern - auch auf den geteilten Screenshots nicht. Auf den Videos der Performance ist dagegen zu sehen, dass sich immer unterschiedlich viele Protagonisten auf beiden Seiten der länglichen Bühne zusammenfinden. 

Auch die Interpretation der Sternenkronen-Trägerin als Jesus ist zumindest gewagt. Auf Leonardo da Vincis Version des Abendmahls hat Christus gar keinen Nimbus, außerdem ist dieser in der Kunstgeschichte meist als goldene Scheibe dargestellt. Die Sternenkrone, die auch als Vorbild der EU-Flagge gilt, ist vielmehr ein Attribut Marias, was die Sache schon erheblich verkompliziert. Die war nämlich zum letzten Essen unter Jüngern gar nicht eingeladen.

Heiliges Voguing

Viel näher liegt die Interpretation, die Anspielungen auf das Heilige aus dem Context des Voguings zu verstehen. Diese Tanz-Praxis, die in der queeren Subkultur New Yorks entstand und von Künstlerinnen wie Madonna für den Mainstream appropriiert wurde, leiht sich seit Jahrzehnten Elemente des Religiösen, spielt mit der Ikonografie von Ekstase und Erlösung und inszeniert Ball-Events wie Gottesdienste. Insofern sind die Anleihen aus der christlichen Bildkultur bei Olympia sicher kein Zufall, sie beziehen sich aber nicht auf die Religion an sich, sondern auf eine Weiterentwicklung der Symbolik, die längst passiert ist und Einzug in die Popkultur gehalten hat. 

Auch der römische Wein- Und Fruchtbarkeitsgott Bacchus (griechisch Dionysos) passt nicht sonderlich gut zur vermeintlichen "Verhöhnung", ist dieser schließlich eindeutig vorchristlich. Vielmehr gehört er in der griechischen Version zum Personal des Götterwohnorts Olymp - und, Moment, war da nicht was: Griechenland, Olympia? 

Der holländische Kunsthistoriker Walther Schoonenberg weist auf X darauf hin, dass das Pariser "Tableaux vivant" an das Gemälde "Fest der Götter" von Jan van Bijlert erinnert, das ein gut besuchtes Gelage auf dem Olymp darstellt und das sich zudem als französisches Kulturgut in einem Museum in Dijon befindet. Während einer Sportveranstaltung mit antikem Erbe auf einen Reigen antiker Götter anzuspielen, wirkt ziemlich plausibel und dürfte für eher wenige lebende Erdenbürger als Beleidigung empfunden werden. 


Vielleicht war die Inszenierung auch eine Melange aus verschiedenen Einflüssen, wie es bei der Referenz-Verwertungsmaschine Kunst so oft der Fall ist. Die ideologisch motivierte Verengung auf eine einzige Lesart zeigt aber einmal mehr, wie wenig das tatsächliche Geschehen noch eine Rolle spielt, wenn das Urteil ins eigene Weltbild passt. Wer überall eine queere Indoktrinierung gegen die Werte des christlichen Abendlandes wittert, wird auch die Olympiaschau nutzen, um sie politisch auszuschlachten. Dabei wurden aber die Werke, um die es gehen soll, offenbar gar nicht richtig angeschaut. 

Die Olympia-Eröffnung, die man aus sehr vielen guten Gründen kritisieren könnte (Größenwahn, Nationalismus, zweifelhafte Sponsoren), war jedoch sehr viel facettenreicher als die plumpe Kritik an ihr. Oder will man eine Édith Piaf singende Celine Dion auf dem Eiffelturm oder eine Jeanne-d'Arc-artige Reiterinnenfigur wirklich als Kniefall vor dem "woken Zeitgeist" interpretieren? Die Präsenz unterschiedlicher Akteurinnen und Strömungen machte die Feier zu dem erinnerungswürdigen Spektakel, das sie war. Das zumindest anzuerkennen, wäre kunsthistorisches Fair Play.