Medienschau

"Was weiterhin fehlt, ist eine selbstkritische Perspektive"

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Noch mehr Positionen zur deutschen Erinnerungskultur, Hommage an den verstorbenen Künstler Ben Vautier und eine mögliche Verschiebung der Documenta 16: Das ist unsere Presseschau am Donnerstag

Debatte

Claudia Roths Entwurf zur Reform der Erinnerungskultur (siehe Medienschau von gestern) sei ein Schritt in die richtige Richtung, meint Sozial- und Kulturanthropologie-Student Elias Aguigah in einem Gastbeitrag für den "Spiegel". "Doch eine simple Erweiterung der deutschen Erinnerungslandschaft um einen weiteren Bereich wird deren Schwächen nicht beseitigen. Was weiterhin fehlt, ist eine selbstkritische Perspektive, die die Instrumentalisierung des Gedenkens zumindest thematisiert. Doch dafür haben Roths Ideen zu wenig Bezug zur aktuellen politischen Realität. Damit die Regierung nicht bei reiner Symbolpolitik verbleibt, müsste das Erinnern in konkrete politische Maßnahmen eingebettet werden. In Bezug auf NS-Verbrechen sollten das die Einführung von Entnazifizierung und Antifaschismus als staatliche Leitmotive sein. Um nicht zahnlos zu wirken, müsste die Erinnerung an koloniale Verbrechen hingegen mit antikolonialer und antiimperialistischer Politik kombiniert werden." In der "Welt" ahnt Sven Felix Kellerhoff dagegen einen "Showdown" zwischen Claudia Roth und Vertretern der Gedenkstätten bei einem Runden Tisch voraus. Aus Hintergrundgesprächen mit größtenteils nicht namentlich zitierten Personen leitet der Autor ab, dass viele der Teilnehmer auf Zeit setzen würden, da sie nicht annehmen, dass Roth einer neuen Bundesregierung nach der nächsten Wahl noch einmal angehören würde. Das Hauptkonfliktthema ist auch hier der Umgang it der Kolonialvergangenheit: "Gleichzeitig hält Roth an einem neuen Schwerpunkt für das nationale Gedenkkonzept fest – dem 'woken' Lieblingsthema Postkolonialismus. Zwar bestreitet die Kulturstaatsministerin jederzeit, mit dieser Erweiterung die Bedeutung der Themen NS-Verbrechen und SED-Diktatur reduzieren zu wollen. Aber genau das ist angesichts begrenzter Mittel und nicht beliebig erweiterbaren Interesses beim Publikum die unausweichliche Folge. Die weiterführende Frage ist ohnehin, wie man mit dem Thema deutscher Kolonialismus um 1900 umgehen soll. Niemand, der von der Sache etwas versteht, bestreitet den genozidalen Charakter im Krieg gegen die Hereros im damaligen Deutsch-Südwestafrika (Namibia). Aber ebenso klar ist, dass dieses Geschehen 1904/05 in den Kontext der europäischen Kolonialpolitik gehört und eben keinen Weg nach Auschwitz weist, wie Anhänger des Postkolonialismus gern behaupten – denn dabei handelt es sich um ein leicht durchschaubares „Argument“ im Ringen um Alimente aus Steuermitteln."

Stefan Trinks hat sich die Debatte über die Documenta und ihre Zukunft im Bundestagskulturausschuss für die "FAZ" angeschaut. Darin wurde darüber diskutiert, wie eine Wiederholung des Antisemitismus-Eklats von 2022 verhindert werden soll und ob die kürzlich beschlossenen Reformen dafür ausreichen: "Auch wurde gefragt, ob die grassierende postkoloniale Ideologie strukturell nicht auch bei der nächsten Ausgabe antisemitische Äußerungen befördern würde und ob die wiederholt geforderte künstlerische Freiheit auch beinhalte, dass, anders als bei der Documenta 15, auch jüdische Künstler eingeladen würden, damit der 'Krisenfall Documenta wieder ein Beispielfall' (Helge Lindh, SPD) werden könne." Dass die nächste Ausgabe der Schau wie geplant 2027 stattfindet, scheint hingegen keineswegs festzustehen. "Abschließend überraschte Staatsminister Gremmels in der zweiten parlamentarischen Fragerunde mit der Aussage, eine gelingende Documenta 16 mit einer intensiven Kunst- und Problemvermittlung stehe im Vordergrund, weshalb im schlimmsten Fall auch eine Verschiebung auf 2028 infrage käme."


Ausstellung

Der Preis der Nationalgalerie geht neue Wege. Erstmals werden mit Pan Daijing, Daniel Lie, Hanne Lippard und James Richards gleich vier Kunstschaffende mit der Auszeichnung für Gegenwartskunst gewürdigt. "Wir wollen damit Kunst und Interaktion fördern, nicht den Wettbewerb", begründete Till Fellrath, Co-Direktor der Nationalgalerie der Gegenwart im Berliner Museum Hamburger Bahnhof, die Neuerung am Dienstag. "Laut Nationalgalerie und Jury setzt der Gedanke dieser Mehrfachwahl (beim britischen Turner-Prize hatte man zunächst auch diesen Weg gewählt, ist aber bald darauf wieder davon abgerückt) auf den 'kollektiven Austausch' und weist die Kritik einer 'Verwässerung' des Preises aus Wokeness-Gründen zurück", berichtet Ingeborg Ruthe in der "Berliner Zeitung".  "Zugleich nämlich kann die Sammlung der Nationalgalerie durch das neue Reglement auf einen Streich vier ganz neu entstandene, auf ihre Weise durchaus charismatische Werke ankaufen. Und das tut dem Bestand des Hauses Hamburger Bahnhof mit seinem Fokus aufs Juvenile natürlich ausgesprochen gut." Die neu entstandenen Arbeiten sind von diesem Freitag an bis zum 5. Januar zu sehen. "Es ist ein spannender Jahrgang", urteilt Birgit Rieger im "Tagesspiegel", "auch wenn die Ausgewählten nur einen Ausschnitt des aktuellen Kunstgeschehens repräsentieren. Alle Wohnhaft in Berlin, alle international gut mit Institutionen vernetzt, die meisten bereits mit einschlägigen Preise wie Ars Viva oder Villa-Aurora-Stipendium ausgezeichnet. Wollte man einen inhaltlichen roten Faden finden, wäre es der Fokus auf den Körper als Schnittstelle zur Welt. Alle arbeiten multimedial, sprechen viele Sinne an, oft spielt Sound eine Rolle."

Theaterkritiker Pe­ter Küm­mel ist in der "Zeit" mitgerissen von Flo­ren­ti­na Hol­zin­gers Per­for­mance "SANC­TA" in Schwe­rin: "Hol­zin­gers Dar­stel­le­rin­nen sind stets nackt. Aber wir, die zu­se­hen, sind es ja ei­gent­lich auch: Nackt­heit ist ein Zu­stand, der nicht be­ho­ben, son­dern nur ca­mou­fliert wer­den kann. Hol­zin­gers The­ma ist der Mensch, der sich be­freit – und sich da­bei wo­mög­lich selbst in Fet­zen rei­ßt. Das Ri­si­ko muss in Kauf ge­nom­men wer­den. Ei­gent­lich will sie zei­gen, dass Nackt­heit (nicht nur im kör­per­li­chen Sinn) das Kost­bars­te ist, das wir be­sit­zen. Ne­ben­bei: Es zo­gen sich auch zwei, drei Chor­sän­ge­rin­nen aus. Ei­ne von ih­nen lä­chel­te, als fühl­te sie sich zum ers­ten Mal ge­se­hen. Wil­der Ju­bel im Saal."

Architektur

Im Gespräch mit Götz Ha­mann und To­bi­as Timm spricht Architekt Rem Koolhaas in der Printausgabe der "Zeit" über internationale Politik, China über Katar bis Osteuropa: "Die sechs Grün­dungs­staa­ten der EU ha­ben es ver­säumt, ei­ne tie­fe Ver­bin­dung mit den EU-Mit­glie­dern in Ost­eu­ro­pa ein­zu­ge­hen. Dort hat sich seit dem En­de der So­wjet­uni­on der Ge­dan­ke ver­fes­tigt, man sei, statt Frei­heit zu ge­win­nen, in ei­ner eu­ro­päi­schen Zwangs­ja­cke ge­lan­det, mit Re­geln, die en­ger und manch­mal so­gar düm­mer sei­en als die in der re­al­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur. Hin­zu kom­me ein er­ho­be­ner Zei­ge­fin­ger ge­gen­über den Ost­eu­ro­pä­ern. Sie wür­den sich nicht an­ge­mes­sen be­neh­men. Das emp­fin­den üb­ri­gens auch vie­le mei­ner Ge­sprächs­part­ner in der üb­ri­gen Welt als un­an­ge­nehm – und un­pas­send."

Nachruf

In der "Neuen Zürcher Zeitung" erinnert Maria Becker an den Fluxus-Künstler Ben, bürgerlich Benjamin Vautier, der im Alter von 88 Jahren gestorben ist. "Es ist nicht schwer zu erkennen, zu welchem Künstlertypus Ben Vautier gehört. Bis zuletzt war er daran, seine Kunst auszuweiten und alle Dinge des Lebens darin unterzubringen. Es gab eigentlich nichts, das im enzyklopädischen Panoptikum von Vautier keinen Platz hatte: Bilder, Skulpturen, Filme, Fotos, Kitsch, Objekte des Alltags, Aktionen, die Kunst seiner Freunde, der Strand von Nizza, die Philosophie und vor allem er selbst. Es ist uferlos, die Dinge seines Werks aufzuzählen. Vautier sorgte allerdings dafür, dass sein Universum nicht chaotisch ist. Er archivierte es, organisierte es, indem er es in Ober- und Unterthemen einteilte, und gab zu allem ein gültiges Statement."