Debatte
Die Documenta sei "zu einer leeren Hülse verkommen, die mit beliebigen Inhalten befüllbar ist", sagte Kunstwissenschaftler Harald Kimpel im Februar in der "FR". Andreas Schlaegel findet in dem skandinavischen Kunstmagazin "Kunstkritikk" dafür das drastische Bild von der "Zombie Documenta": "Vielleicht hat Herr Kimpel Recht, dass die nächste Documenta Gefahr läuft, ein Zombie zu werden. Aber nicht so sehr, weil der ursprüngliche Geist der Documenta ausgehöhlt wurde, sondern vielmehr, weil die Hauptqualität der Megaschau im Laufe der Jahrzehnte ihre Fähigkeit geworden ist, ohne allzu große Kompromisse neue künstlerische Diskurse in den Vordergrund zu stellen. Mit anderen Worten: Es ist wohl gerade ihr sich ständig weiterentwickelnder und verändernder 'Geist', der die Documenta in Gefahr bringt."
Erinnerungskultur
Für ein Papier über die Reformierung der Erinnerungskultur wurde Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) stark kritisiert - bis hin zum Vorwurf der Holocaust-Relativierung durch einen stärkeren Fokus auf die Verbrechen des Kolonislismus. Im Interview mit der "Zeit" weist sie dies zurück: "Dieser Vorwurf ist nun wirklich absurd! Es geht mir doch gerade darum, der Entsorgung von Geschichte etwas entgegenzusetzen." Auch der These, das Gedenken an die Shoah blockiere eine stärkere Aufarbeitung des Kolonialismus, tritt sie in dem Gespräch entgegen: "Gerade da kann doch eine vertiefte Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Fragen der kolonialen Vergangenheit einiges zurechtrücken. Nicht erst seit dem 7. Oktober zeigt sich, dass manche Teile des Dekolonialisierungsdiskurses anfällig für Antisemitismus sind. Das kann doch aber nicht bedeuten, sich deshalb nicht mehr mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Länder wie Hamburg oder Berlin zeigen gerade mit ihren Konzepten, wie das parteiübergreifend und mit der Zivilgesellschaft geht."
Kunstgeschichte
Hal Foster bespricht in der "London Review of Books" in der Ausführlichkeit von 23.000 Zeichen Mark Polizzottis Buch "Why Surrealism Matters" – und denkt in seiner Review auch über die Gegenwart nach: "Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Jahren des Wiederaufbaus in Europa, änderten sich die Bedingungen von Gesetz und Transgression. In einem Interview aus den frühen 1950er-Jahren formulierte Breton dies so: Der Geist war damals [in den 1920er Jahren] von der Erstarrung bedroht, während er heute von der Auflösung bedroht ist". Recht und Ordnung seien heute kaum noch das, was sie waren, als der Surrealismus ins Leben gerufen wurde, findet Foster, "und die Transgression auch nicht. In unserer nihilistischen Phase des Neoliberalismus ist die Transgression sogar die Domäne des Königs Ubus der Welt, wie Donald Trump. Der Surrealismus ist auf der rechten Seite angekommen."
Reportage
Für die "Welt" begleitet Boris Pofalla einen Tag lang die gerade höchstgefragte Bildhauerin Angelika Loderer durch Wien. Dabei fühlt er sich auch zu einigen grundsätzlichen Überlegungen zur österreichischen Kunstszene verleitet: "Anders als in Deutschland werden bei Eröffnungen in Wien noch richtige Ansprachen von leibhaftigen Kunsthistorikern gehalten. Österreichs Kunstwelt ist so gesehen förmlicher, aber deshalb nicht gestrig. Im Gegenteil, es herrscht eine schöne Ernsthaftigkeit, die Achtung vor Kunstwerken und ihren Schöpfern ausdrückt. In Wien scheinen die Dinge langsamer gewachsen zu sein, um im Bild von Wald und Baum zu bleiben. Alles hat eine gewisse Patina, auch das Restaurant, in das die Galerie anschließend zum Abendessen einlädt. Bei Oswald & Kalb hängen Porträts von Künstlern und Schriftstellern an den Gewölbewänden, die an die sechshundert Jahre alt sind. Eine Institution. So viel Tradition und Kontinuität würde anderswo leicht zur Erstarrung führen, aber das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Viele jüngere Künstler, sagt Angelika Loderer, ziehen im Moment nach Wien. Das hat gute Gründe. Es gibt nicht nur viele Museen, sondern auch jede Menge nicht-kommerzielle Ausstellungsräume, die von Künstlern selbst betrieben werden. Ateliers und Mietwohnungen sind noch einigermaßen erschwinglich, das Studium an der Akademie ist kostenlos und die Professoren trotzdem renommiert. Wien, the place to be? Es sieht ganz so aus."
Das besondere Kunstwerk
Die Installation "The Portal" des Unternehmers Benediktas Gylys, die die beiden Städte Dublin und New York per Livestream verbindet, wurde zwischenzeitlich ausgeschaltet. Das Publikum hatte - vielleicht erwartbarerweise - damit nackten und politisch problematischen Schabernack getrieben. Nun ist das digitale Experiment wieder freigeschaltet, allerdings in abgeschwächter Form, wie Frauke Steffens in der "FAZ" berichtet. "Heute benehmen sich alle. Angeblich soll es jetzt auch eine neue Vorsichtsmaßnahme gegen Unfug und seine weniger harmlosen Varianten geben: Wenn man der Linse zu nah kommt, soll das Bild auf der anderen Seite verschwimmen. Eine andere Neuerung dient dazu, betrunkenen Schabernack zu verhindern. Das Portal schließt in New York jetzt immer schon um vier Uhr nachmittags. Die Stadt, die angeblich niemals schläft, kann abends niemand mehr von Dublin aus sehen. Wenn es bei den Iren 21 Uhr ist, ist Schluss mit der transatlantischen Verbrüderung. Das Portal hält den Menschen nun also keinen Spiegel mehr vor, indem es einfach immer da ist – auch wenn sie sich danebenbenehmen. Stattdessen erwartet es von ihnen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, und das bitte zu zivilen Zeiten."